Vor den Corona-Impfstoffen gab es sie praktisch kaum: Arzneimittel, die mit einem Stoff versehen sind, der dann im Körper in ein Protein umgewandelt wird und erst so zum eigentlichen Wirkstoff wird. Nun nutzt die Pharmaindustrie die Gunst der Stunde und versucht, diese Technologie für weitere Anwendungen zu mobilisieren. Dabei nehmen einige auch öffentliche Gelder entgegen. Ein Kommentar.
Kaum erreichte das neuartige Coronavirus Europa, nahmen gleich mehrere Biotech-Unternehmen ihre Chance wahr. Ein Impfstoff soll so bald als möglich her, so lautete der allgemeine Tenor. Einer der Betriebe, die sich rasch an die schwierige Aufgabe wagten, war das Mainzer Unternehmen Biontech. Bereits im März 2020 veröffentlichte es seine Strategie zur Entwicklung eines möglichen Covid-19-Vakzins unter dem Namen «Lightspeed». Und tatsächlich ging es schnell, sehr schnell sogar. Noch vor Weihnachten 2020 gab Swissmedic grünes Licht und liess den ersten mRNA-Impfstoff in der Schweiz bedingt zu. Die mRNA-Technologie kam erstmals als zugelassenes Mittel zum Einsatz.
Vom Impfstoff zum Medikament
«Wir setzen unsere Einblicke und Erkenntnisse aus der mRNA-Technologie ein, um auch in der Onkologie einen Mehrwert zu schaffen»
Antony Blanc
Seither versuchen mehrere grössere und kleinere Player der Pharma- und Biotechbranche, die mRNA-Technologie für weitere Anwendungen zu etablieren. Doch wozu kann diese biotechnologische Neuheit eingesetzt werden und wie ausgereift ist die Technologie wirklich? Drehen wir doch nochmals kurz die Zeit zurück, denn bei der Entwicklung der mRNA-Vakzine hatten nicht alle Erfolg.
Breiter Einsatz trotz markanter Wissenslücke
Das Biotech-Unternehmen Curevac, ebenfalls ein mRNA-Pionier, scheiterte an der Wirksamkeit seines Covid-Impfstoffkandidaten. Das Vakzin kam nie auf den Markt. Ursache? Unbekannt. Bald zeigte sich auch, dass die zugelassenen Impfstoffe nicht das versprechen konnten, was man sich erhofft hatte: Eine Infektion ist trotz Impfung möglich, eine Übertragung lässt sich nicht verhindern, die Wirksamkeit lässt ohne Auffrischimpfung nach.
Das Zulassungverfahren des Biontech-Impfstoffs dauerte in der Schweiz rund neun Monate. Laut Infovac sei es im Notfall möglich, die Zulassungsdauer zu verkürzen. Aber auch dann bräuchten alle Prüfungsphasen ihre Zeit, schneller als bestenfalls zwölf bis 18 Monate gehe es nicht. Die Infovac ist eine seriöse Informationsplattform für Impffragen, die unter anderem vom Bundesamt für Gesundheit (BAG) und der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie finanziell unterstützt wird. Die Zulassungsdauer unterschritt also sogar die kürzeste Phase, die die Fachpersonen von Infovac auch im Notfall nicht unterschreiten würden. Dass in dieser äusserst kurzen Zeitspanne aufgrund der minimalen Beobachtungszeit unglaublich viele Fragen nicht zu klären waren und Optimierungen gar nicht möglich waren, leuchtet ein. Dass an manchen Orten während der Zulassungsstudie aufgrund des Zeitdrucks unsauber gearbeitet wurde, darüber hat beispielsweise das renommierte Wissenschaftsmagazin «British Medical Journal» (BMJ) ausführlich berichtet.
Erfahrungswerte in der Anwendungsphase
Dennoch konnte die Medizin ihre Erfahrungen mit der neuen Technologie sammeln. Denn es wurden Milliarden Menschen mit einem mRNA-Impfstoff geimpft. Auch Personen ausserhalb der bekannten Risikogruppen. Sogar Daten von gesunden Kindern konnten aufgearbeitet werden, obschon das Coronavirus sie in aller Regel nicht gefährdet und das Vakzin nicht gut vor Übertragung schützt. Nebst der tatsächlichen Wirksamkeit, die in Wirklichkeit schwächer ist als angenommen, tauchten bald auch schwere Nebenwirkungen auf, wie beispielsweise Herzmuskelentzündungen, oder das Post-Vac-Syndrom, wie Publikumsmedien seit kurzem berichten. Sie blieben zum Glück selten. Aber betroffenen Personen kann oft nicht geholfen werden. Sie werden nicht ernst genommen und das Thema ist immer noch ein gesellschaftliches Tabu.
Dennoch: Gegenwärtig gehen Forschende in mehreren Studien davon aus, dass unzählige schwere Verläufe aufgrund der Vakzine und somit der mRNA-Technologie verhindert werden konnten. Wie hoch die Zahl derer ist, die dank dem Vakzin überlebt haben, ist allerdings noch unklar und bleibt Gegenstand der aktuellen Forschung. Zu hoffen ist auch hier, dass der Schutz vor schweren Verläufen nicht doch noch im Nachhinein als überschätzt angesehen würde. Das wäre im wahrsten Sinne des Wortes fatal.
Förderung vom Staat
Die Pharmaunternehmen wie Curevac oder Evonik interessieren sich gegenwärtig aber nicht nur für Atemwegserkrankungen. Sie möchten die mRNA-Technologie primär als Gentherapeutika gegen Krebs einsetzen. Die Erfahrungen bei den Vakzinen können hierbei helfen. Aber die Daten lassen keine direkten Rückschlüsse auf mögliche Wirksamkeiten zu. Schliesslich handelt es sich bei Covid-19 und bestimmten Krebsarten um ganz andere Krankheitsbilder. Vielmehr nutzen die Unternehmen die Gunst der öffentlichen Wahrnehmung und die wichtigen Erfahrungen im Vertrieb, Produktion und der ökonomischen Infrastruktur.
Sie organisieren ihre Firmenstrukturen bereits jetzt so um, dass Medikamente der mRNA-Technologie einen hohen Stellenwert einnehmen können. Das Essener Unternehmen Evonik beispielsweise baut in den USA eine Mehrzweckanlage für die Produktion von Lipiden. Diese sollen dann für «zukünftige Anwendungen der mRNA-Technologie» eingesetzt werden. Ein etwas fader Beigeschmack: Für den Bau erhält der finanzstarke Konzern 150 Millionen Dollar von der US-Regierung.
In die gleiche Richtung zieht es Curevac. «Wir setzen unsere Einblicke und Erkenntnisse aus der mRNA-Technologie ein, um auch in der Onkologie einen Mehrwert zu schaffen», wird Antony Blanc, Chief Business Officer und Chief Commercial Officer von Curevac, in einer Medienmitteilung zitiert. Hierfür will das Biopharmaunternehmen aus Tübingen in Zukunft mit dem Immuntherapiespezialisten Myneo zusammenarbeiten. Myneo liefert dabei biologische Datensätze und Fachwissen aus der Bioinformatik.
Übrigens: Curevac hat Biontech wegen angeblicher Patentrechtsverletzung betreffend mRNA-Technologie verklagt.
Mehrere Unternehmen der Branche steuern Richtung mRNA-Technologie. Aber sie schaffen es nicht alleine. Sie brauchen die Unterstützung des Staates. So hat der Bund am 22. Juni beschlossen, die biomedizinische Forschung in der Schweiz anzukurbeln. Die Rede ist dabei vom sogenannten «Masterplan». Hierbei handelt es sich um «Massnahmen des Bundes zur Stärkung der biomedizinischen Forschung und Technologie» für die Jahre 2022 bis 2026. Dabei soll unter anderem die (klinische) Forschung von Arzneimitteln für neuartige Therapien in der Schweiz gefördert werden.
Dass hierbei die mRNA-Technologie zusätzlichen Aufwind erhält, ist nur logisch. Aus technischer Sicht hat die mRNA-Technologie durchaus grosses Potenzial. Ob dieses dann aber in Zukunft wirklich sinnvoll eingesetzt wird, das steht auf einem ganz anderen Blatt Papier. Es bleibt zu hoffen.
Roger Bieri