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Neue Niedermolekulare-Wirkstoffe-ML-Allianz

Durch Zusammenarbeit mit Machine-Learning-Spezialisten bringen Pharmaunternehmen ihre Arzneimittel-Entwicklung auf Trab. Insbesondere werden für die Auswahl von niedermolekularen Wirkstoff-«Lotsen» sogenannte DNA-kodierte Molekül-Bibliotheken zu einer noch wertvolleren Schatztruhe.
Niedermolekulare Wirkstoffe, hier bei der Bindung an einen Rezeptor, machen über 90 Prozent der verschriebenen Arzneimittel aus. (Bild: Shutterstock)

Durch Zusammenarbeit mit Machine-Learning-Spezialisten bringen Pharmaunternehmen ihre Arzneimittel-Entwicklung auf Trab. Insbesondere werden für die Auswahl von niedermolekularen Wirkstoff-«Lotsen» sogenannte DNA-kodierte Molekül-Bibliotheken zu einer noch wertvolleren Schatztruhe.

Hightech-Giganten übernehmen innovative Unternehmen aus dem Machine-Learning-Segment (ML). Ein Beispiel ist die Beteiligung von Microsoft an Open AI (Stichwort: Chatbot «Chatgpt»). Das überrascht kaum.

Dagegen lassen Beteiligungen von Pharma-Unternehmen an ML-Spezialisten in jüngster Zeit aufmerken. Unter anderem hat der bekannte Corona-Impfstoff-Hersteller Biontech die britische Instadeep übernommen. Mit Hilfe dieses ML-Start-ups sollen Impfstoffe und Biopharmazeutika gegen Krebs und Infektionskrankheiten schneller entwickelt werden.

Neuen Schwung erhoffen sich nun auch Unternehmen, die sich auf das Gebiet der niedermolekularen Pharmazeutika spezialisiert haben. Dabei soll in Zukunft die ML-gestützte Recherche in DNA-kodierten Molekül-Bibliotheken (DEL, DNA-encoded libraries) die Suche nach therapeutisch relevanten Kandidaten beschleunigen.

Mühsamerer Weg zu neuen Erfolgen

Niedermolekulare Wirkstoffe weisen eine Molmasse von weniger als 800 Gramm auf. Sie machen mehr als 90 Prozent der verordneten Arzneimittel aus – vom Kopfschmerzmittel über Antibiotika und Betablocker bis zum Anti-Krebs-Mittel.

Das Anwendungsspektrum niedermolakularer Wirkstoffe reicht vom Kopfschmerzmittel bis zur Krebstherapie. (Bilder: Shutterstock)

Das theoretische Potenzial für Forschung und Entwicklung auf diesem Gebiet ist seit der Entschlüsselung des humanen Genoms sogar noch gestiegen. Denn dadurch wurden vor gut 20 Jahren insgesamt 3000 mögliche Angriffspunkte für niedermolekulare Wirkstoffe ausgemacht. Von ihnen wird zurzeit aber erst ein Bruchteil (weniger als ein Fünftel) als «Drug Target» ins Visier genommen.

Interessante Targets stellen zum Beispiel bestimmte Enzyme dar, deren Aktivität bei Krebserkrankungen und chronischen Entzündungen aus dem Ruder läuft. Sie sorgen dann für eine unkontrollierte Aktivierung (oder in seltenen Fällen auch für eine Deaktivierung) von Proteinen.

Bei den Enzymen handelt es sich um die Proteinkinasen; die entsprechenden Arzneistoffe heißen Proteinkinase-Hemmer. Einige werden bereits gegen Tumore oder Arthritis eingesetzt. Von anderen erhofft man sich zukünftig eine Therapie für die Alzheimer-Krankheit. Allerdings schien in den letzten Jahren die Entwicklung neuer niedermolekularer Wirkstoffe ins Stocken zu geraten. Plötzlich galten sogar große Moleküle (Proteine, «Biologics») als die erfolgsträchtigeren Hoffnungsträger. Woran liegt das?

Zeitaufwendig zur Leitstruktur

Die Entwicklung eines niedermolekularen Wirkstoffs ist mit einem hohen Aufwand verbunden. Denn er muss nicht nur wirken, sondern unter anderem in einer wasserlöslichen Form verfügbar sein, über eine ausreichende chemische Beständigkeit verfügen, möglichst selektiv an sein Zielmolekül binden, und er darf keine (bzw. allenfalls tolerierbare) toxischen Eigenschaften aufweisen.

Um wenigstens bis zu sogenannten Leitstrukturen («leads») zu gelangen, bedarf es üblicherweise mehrerer Jahre. In dieser Zeit werden Wirkstoff-Kandidaten gescreent und die erhofften biologischen Wirkungen in Laborexperimenten bestätigt. Dann folgen viele chemische Modifikationen und Labortests, um Effektivität, Selektivität und Pharmakokinetik (Verfügbarkeit im Organismus) zu optimieren.

Jede Möglichkeit, diesen langwierigen Prozess zu beschleunigen, ist willkommen. Eine setzt bei der Auswahl der Wirkstoff-Kandidaten an und nennt sich Hochdurchsatzscreening (HTS): Unter weitgehender Automatisierung werden viele chemische Verbindungen auf einmal synthetisiert und durchlaufen verschiedene Tests.

Dem zugrunde liegt das Konzept der kombinatorischen Chemie: ein Mehrkomponentengemisch in einem einzigen Prozess zu synthetisieren und es auch in einem einzigen Prozess zu screenen. Am Anfang steht ein Pool von chemischen Verbindungen, eine sogenannte Molekül-Bibliothek, worin sich – so hofft man – therapeutisch interessante Substanzen oder deren Vorläufer verbergen.

Dabei kann es sich, über Wirkstoff-Kandidaten hinaus, auch um Moleküle mit einer anderen Funktion handeln. Ein Beispiel stellen Liganden dar; sie wirken nicht selbst, doch binden sie an den eigentlichen Wirkstoff und lotsen ihn zum Wirkort, zum Beispiel zu einem Tumorgewebe. So wirkt ein Krebstherapeutikum viel schneller und verursacht weniger Nebenwirkungen als herkömmliche Therapien.

Potenziellen Wirkstoff-Kandidaten mit Barcode

Zu den Pools von niedermolekularen Molekülen, aus denen therapierelevante Kandidaten ausgewählt werden können, gehören die DEL. Sie basieren auf chimären Molekülen. Diese bestehen aus einem niedermolekularen Molekül und einem kurzen DNA-Strang; beide sind miteinander übereinen sogenannten Linker fest verbunden. Jeder einzelne DNA-Strang fungiert dabei als Barcode für das mit ihm verbundene Molekül.

Insbesondere lässt sich nach chemischen Reaktionen das erhaltene Produkt über seinen DNA-Barcode zum Ausgangsstoff aus der DEL zurückverfolgen. Mit diesem Ausgangsstoff und den bekannten chemischen Reaktionen, wird sich in der Regel auch die chemische Struktur des Produkts erschließen. Eine klassische Strukturaufklärung (z. B. durch Chromatographie/Massenspektrometrie) erübrigt sich.

Zum Beispiel möchte man eine Antwort auf die Frage: Welche der Moleküle aus der DEL binden besonders gut an eine Zielstruktur (z. B. an eine Proteinkinase oder an ein Tumorgewebe)? Mit Hilfe der DNA-Codierung geht das ganz leicht: die gesamte Bibliothek mit der Zielstruktur mischen, um eine Bindung zu ermöglichen, nach dem Bindungs-Vorgang Moleküle, die nicht binden, auswaschen und mit der Zielstruktur und den daran gebundenen Molekülen eine DNA-Sequenzierung durchführen! Mit der DNA identifiziert man gleichzeitig auch das niedermolekulare Molekül («Barcode-Funktion») bzw. die niedermolekularen Moleküle, die an die Zielstruktur gebunden haben. Die anderen wurden ja zuvor ausgewaschen.

Mehr in silico-Vorarbeit – mehr ML

In der Praxis bleibt das Hochdurchsatzscreening aber nach wie vor mit aufwendiger Laborarbeit verbunden. Darum besteht eine Idee darin, das HTS vom Labor «in silicium» zu verlegen und komplett auf dem Computer durchzuführen.

Ein zusätzlicher Impuls kommt jetzt aus dem Machine Learning. Beispielsweise setzen das italienisch-schweizerische Biotechnologie-Unternehmen Philogen, Siena, und sein Tochterunternehmen Philochem, Otelfingen, ein ETH-Spin-off zur Entdeckung neuartiger niedermolekularer Liganden, jetzt auf ML-Modelle von Google. Gemeinsam mit dem amerikanischen Technologieunternehmen will man das Screening von kombinatorischen DEL-Bibliotheken, die Milliarden von Molekülen enthalten, nochmals deutlich effizienter machen. Mit dem sogenannten „Instance-Level Deep Learning Modeling“ erhofft man sich, in den DEL-Bibliotheken von Philochem neue niedermolekulare Liganden zu entdecken, die vor allem gegen Tumore eingesetzt werden können.

Mit Machine Learning lassen sich bildliche Darstellungen klassifizieren (z. B. Tumor oder kein Tumor auf Röntgenaufnahme oder MRT); nun soll ML in Moleküldatenbanken verborgene Strukturen erkennen und therapeutisch relevante Kandidaten zu identifizieren helfen. (Bilder: Shutterstock)

Eine erste Erfolgsmeldung konnte bereits vermeldet werden: Identifiziert wurde ein Kandidat gegen Carbonic Anhydrase IX (CAIX), einen klinisch validierten Marker für Sauerstoffmangel, der auch als Biomarker für das klarzellige Nierenzellkarzinom gilt.

Dieses Beispiel unterstreicht den Wert von Molekül-Bibliotheken mit therapeutisch relevanten Kandidaten im Allgemeinen und von DEL-Bibliotheken mit Wirkstoff-Liganden im Besonderen: Wer einen solchen Schatz hat, kann sich glücklich schätzen. Machine Learning macht ihn noch kostbarer.

ChemieXtra

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