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Substrate objektiv auswählen

Unbewusster Voreingenommenheit vorbeugen: An der Universität Münster wurde ein computergestütztes Verfahren entwickelt, mit dem subjektive Verzerrungen in Studien zur Herstellung neuer chemischer Verbindungen vermieden werden sollen.
Das Team um Prof. Dr. Frank Glorius überführte alle zugelassenen pharmazeutischen Wirkstoffe in einen digitalen Code. (Grafik: Uni MS – Debanjan Rana/Glorius Group).

Unbewusster Voreingenommenheit vorbeugen: An der Universität Münster wurde ein computergestütztes Verfahren entwickelt, mit dem subjektive Verzerrungen in Studien zur Herstellung neuer chemischer Verbindungen vermieden werden sollen.

Chemikerinnen und Chemiker entwickeln und optimieren neue chemische Reaktionen häufig an sogenannten Modellsystemen, das heisst an einfachen, leicht zugänglichen Substraten. Anschliessend zeigen sie beispielhaft an bis zu etwa 100 anderen Substraten, dass die Reaktion funktioniert. Diese Demonstration vielseitiger Anwendbarkeit heisst im Fachjargon «Scope». Durch eine subjektive Auswahl der Substrate entsteht jedoch häufig ein verzerrtes Bild der Anwendungsbreite der neu entwickelten Reaktion. Oft ist unklar, ob sie zur Synthese eines gewünschten Produktes genutzt werden kann. Eine Forschungsgruppe um den Chemiker Prof. Dr. Frank Glorius von der Universität Münster schlägt daher eine Möglichkeit vor, die Modellsubstrate zur Evaluation einer neuen chemischen Reaktion computergestützt – und somit unvoreingenommen – auszuwählen.

Die Auswahl der Substrate orientiert sich an der Komplexität und den strukturellen Eigenschaften echter pharmazeutischer Verbindungen. «Unsere Methode zielt darauf ab, die Qualität und den Informationsgehalt chemischer Reaktionsdaten künftig zu verbessern und Wissenslücken zu schliessen», betont Glorius. Ein vertieftes Verständnis neuer Reaktionen senke die Barrieren für deren Anwendung sowohl im akademischen als auch im industriellen Kontext. Die Verfügbarkeit hochwertiger, unvoreingenommen generierter Daten erleichtere darüber hinaus den Einsatz von maschinellem Lernen signifikant und ebne den Weg für eine umfassendere Nutzung der Daten. Die Arbeit ist in der Fachzeitschrift ACS Central Science veröffentlicht.

«Wir möchten ein Umdenken anstossen»

Versuche, die Entwicklung und Evaluierung von chemischen Reaktionen zu standardisieren und zu objektivieren, seien noch ziemlich neu und nicht weit verbreitet. «Wir möchten mit unserer Publikation einen Umdenkprozess anstossen. Statt möglichst vielen Experimenten, die oft voreingenommen geplant sind oder einen vorab ersichtlichen Ausgang haben, sollte der bestmögliche Informationsgewinn über neue chemische Reaktionen im Vordergrund stehen», sagt Erstautor Debanjan Rana.

Auch andere Wissenschaftler haben bereits versucht, chemische Reaktionen anhand von «besser» ausgewählten Substraten zu bewerten. Diese Arbeiten beschränkten sich jedoch auf Spezialfälle – entweder auf fest ausgewählte Strukturen mit pharmazeutischer Relevanz oder auf speziell für eine einzige Reaktion zugeschnittene Strukturen, die jedoch in einem aufwändigen Verfahren berechnet und ausgewählt werden müssen. Im Gegensatz zu den vorhergegangenen Arbeiten berücksichtigt die an der Universität Münster vorgestellte Methode die gesamte Struktur eines Moleküls. Sie ist somit universell für jede chemische Reaktion anwendbar.

Mitautor Niklas Hölter unterstreicht, dass der Scope von zentraler Bedeutung in allen Publikationen der chemischen Synthese sei. «Chemikerinnen und Chemiker treffen die Auswahl der zu testenden Substrat-Verbindungen aber häufig voreingenommen», ergänzt er. «Beispielsweise wählen sie Substrate, die strukturell einfach, dem Modellsubstrat ähnlich oder schlichtweg gerade im Labor verfügbar sind. Erfolglose Reaktionen erwähnen sie in ihrer Publikation häufig überhaupt nicht, um ein besseres Bild abzugeben.»

In chemisch sinnvolle Regionen eingeteilt

Bei der Synthese von neuen chemischen Verbindungen, beispielsweise Wirkstoffe oder Materialien, müssen Chemikerinnen und Chemiker aus einer grossen Anzahl bekannter chemischer Reaktionen und Methoden diejenige auswählen, die zur Herstellung der Zielverbindung am besten geeignet ist. Hierfür berücksichtigen sie mehrere Faktoren wie die Ausbeute des gewünschten Produktes sowie umwelt- und sicherheitstechnische Aspekte. Die Entwicklung neuer, vielseitig einsetzbarer chemischer Reaktionen ist daher nach wie vor ein Schwerpunkt aktueller chemischer Forschung.

Zur Methode: Die Forschungsgruppe der Universität Münster überführte mittels sogenannter molekularer Fingerprints alle zugelassenen pharmazeutischen Wirkstoffe in einen digitalen Code. Mit nicht überwachtem maschinellen Lernen und Clustering-Methoden entwickelten sie ein Modell, das diesen «Raum» pharmazeutischer Wirkstoffe in chemisch sinnvolle Regionen einteilt, basierend auf den Molekülstrukturen. Zur Evaluation einer neuen chemischen Reaktion lassen sich tausende potenzieller Test-Substrate mithilfe des Machine-Learning-Modells in denselben Raum hineinprojizieren. Aus dem Zentrum jeder der zuvor identifizierten Regionen wird automatisiert ein Test-Substrat ausgewählt, um den gesamten Raum ohne «Bias» abzudecken.

www.uni-muenster.de

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