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Verbot der risikoreichen Gain-of-Function-Forschung gefordert

Manche biotechnologischen Manipulationen an Viren könnten für die öffentliche Gesundheit eine grosse Gefahr darstellen. So ist die sogenannte Gain-of-Function-Forschung, die Erreger zu Forschungszwecken ansteckender macht, hochumstritten. Solche Praktiken könnten im Falle eines Laborlecks zu gefährlichen Pandemien führen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzen nun ein Zeichen: Sie rufen zur weltweiten Beendigung der risikoreichen Gain-of-Function-Forschung an potenziellen Pandemieerregern auf.
«Der Mensch hat gelernt, in die molekularen Grundbausteine der Natur einzugreifen; dies schafft viele Möglichkeiten, Leben zu erhalten, aber auch neue Wege, es ungewollt zu beenden.» (aus der «Hamburger Erklärung 2022»). (Bild: Envato)

Manche biotechnologischen Manipulationen an Viren könnten für die öffentliche Gesundheit eine grosse Gefahr darstellen. So ist die sogenannte Gain-of-Function-Forschung, die Erreger zu Forschungszwecken ansteckender macht, hochumstritten. Solche Praktiken könnten im Falle eines Laborlecks zu gefährlichen Pandemien führen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler setzen nun ein Zeichen: Sie rufen zur weltweiten Beendigung der risikoreichen Gain-of-Function-Forschung an potenziellen Pandemieerregern auf.

50 Forschende aus allen Teilen der Welt unterzeichneten jüngst die «Hamburger Erklärung 2022». Veröffentlicht hat das Papier der deutsche Physiker Prof. Roland Wiesendanger auf der Plattform Researchgate. Diese Erklärung folge dem Geist der «Göttinger Erklärung» von 1957, die sich mit der Bedrohung durch Atomwaffen befasst habe, schreibt der Professor zur Publikation.

Wiesendanger ist bereits vor einem Jahr an die Öffentlichkeit getreten und hat auf die Gefahren der Gain-of-Function-Forschung an potenziellen Pandemieerregern hingewiesen. In diesem Zusammenhang vertritt er die Hypothese, das Coronavirus Sars-CoV-2 stamme aus einem Labor in Wuhan. Die ChemieXtra hat vor kurzem in einem Kommentar («Kommt das Coronavirus doch aus einem Labor?») darüber berichtet.

Ganz unabhängig davon, woher das Sars-CoV-2-Virus nun tatsächlich herkommt, möchten die Forschenden auf das hohe Risiko solcher biotechnologischen Manipulationen mit potenziellen Pandemieviren aufmerksam machen.

Im Folgenden ist die Erklärung auf Deutsch nachzulesen (die englische Originalversion finden Sie hier: «Hamburg Declaration 2022»):

Text: Roger Bieri

Hamburger Erklärung 2022

Aufruf zur weltweiten Einstellung der risikoreichen Gain-of-Function-Forschung an potenziellen Pandemieerregern

Im Bewusstsein der Aufgabe und Verantwortung von Wissenschaft und Forschung, dem Wohl der Menschheit zu dienen, nach Wahrheit zu streben und die gewonnenen Erkenntnisse der Allgemeinheit zu vermitteln, möchten die Unterzeichner dieser Erklärung auf eine grosse Bedrohung für die menschliche Existenz aufmerksam machen, die in den letzten Jahren durch neuartige Bioengineering-Techniken zur Veränderung gefährlicher Krankheitserreger entstanden ist.

Durch das, was allgemein als «gain-of-function»-Forschung bezeichnet wird, werden natürlich vorkommende Viren durch Veränderungen der Gensequenz künstlich angepasst, um ihr Eindringen in menschliche Zellen zu erleichtern, entweder durch direktes Gen-Editing oder einfach durch eine beschleunigte Evolution in einem Prozess, der als «passaging» bezeichnet wird. Dies birgt ein enormes Potenzial für eine menschliche Pandemie, worauf verantwortliche Wissenschaftler und Forscher in den letzten zehn Jahren immer wieder hingewiesen haben. In den letzten Jahren wurden solche Forschungen an verschiedenen hochgefährlichen Krankheitserregern wie Vogelgrippeviren und Coronaviren vom Typ Sars durchgeführt. Ein Grossteil dieser Arbeiten wurde im Rahmen von öffentlich finanzierten Forschungsprojekten durchgeführt.

Die aktuelle Coronavirus-Pandemie zeigt deutlich, was passiert, wenn Krankheitserreger extrem leicht von Mensch zu Mensch übertragen werden können. Millionen von Menschen sind gestorben und die Lebensgrundlage von Milliarden von Menschen ist bedroht oder ganz verloren gegangen. Diese enormen Verheerungen sind eingetreten, obwohl die Sterblichkeitsrate des Sars-CoV-2-Virus mit rund einem Prozent vergleichsweise gering ist. In verschiedenen Labors auf der ganzen Welt laufen jedoch derzeit Versuche, bei denen weitaus gefährlichere Viren wie Mers-, Ebola- oder Nipah-Viren durch Gain-of-Function manipuliert werden.

Leider ist kein Biotechnologielabor der Welt sicher genug, um zu garantieren, dass solche verbesserten Viren nicht entkommen, insbesondere angesichts der Funktionen, die absichtlich oder versehentlich erworben werden können und die oft schwer vorherzusagen sind. Eine katastrophale Verletzung der Biosicherheit durch solche Viren könnte für einen beträchtlichen Teil der Weltbevölkerung tödlich sein, insbesondere wenn die Übertragbarkeit hochgefährlicher Viren über die menschlichen Atemwege durch genetische Veränderungen oder andere Mittel erleichtert wird.

Wir als Wissenschaftler sind uns der Bedeutung der Freiheit von Wissenschaft und Forschung durchaus bewusst, appellieren aber dennoch an alle Regierungen der Welt, solche gefährlichen «gain-of-function»-Experimente zu stoppen. Das Risiko einer weltweiten Pandemie, das mit dieser extremen Art von Forschung verbunden ist, und das Potenzial für das Aussterben grosser Teile der Weltbevölkerung ist einfach nicht hinnehmbar und hätte nie sein dürfen. Darüber hinaus fordern wir, dass ein solcher Abbruch von einer unabhängigen internationalen Aufsichtsbehörde beaufsichtigt und kontinuierlich überwacht wird.

Unabhängig von der jeweiligen Verfassungs- und Regierungsform eines Landes muss jedes Staatsoberhaupt verantwortungsbewusst handeln und nicht nur zum Wohl der Bevölkerung des eigenen Landes, sondern auch zum Wohl der gesamten Menschheit beitragen. Der Mensch hat gelernt, in die molekularen Grundbausteine der Natur einzugreifen; dies schafft viele Möglichkeiten, Leben zu erhalten, aber auch neue Wege, es ungewollt zu beenden. Wir müssen diese Verantwortung ernst nehmen, bevor es zu spät ist.

Roland Wiesendanger, Prof. Dr. Dr. h.c., Nanoscientist, University of Hamburg, Germany (Organizer)
Hiroshi Arakawa, Dr., Institute of Molecular Oncology, IFOM, Milan, Italy
Ute Bergner, Dr., Physicist, Jena, Germany
Valentin Bruttel, Dr., Immunologist, University of Würzburg, Germany
Colin Butler, Hon. Prof. Dr. Dr., Epidemiologist, Australian National University, Canberra, Australia
Lounes Chikhi, Dr., Population Geneticist, CNRS, Paul Sabatier University, Toulouse, France
Jean-Michel Claverie, Prof. Dr., Dept. of Medicine, Aix-Marseille University, Marseille, France
Fabien Colombo, Communication and Sociology of Science, Université Bordeaux Montaigne, France
Malcolm Dando, Prof. Dr., Section of Peace Studies and International Development, University of Bradford, United Kingdom
Étienne Decroly, Prof. Dr., Member of the Board of Directors of the French Virology Society, CNRS Director of Research, AFMB lab, UMR7257, Aix Marseille Université, Marseille, France
Gilles Demaneuf, Engineer and Data Scientist, Auckland, New Zealand
Richard Dronskowski, Prof. Dr., Institute of Inorganic Chemistry, RWTH Aachen, Germany
Lucia Dunn, PhD, Professor of Economics, The Ohio State University, Columbus, USA
Frank Fehrenbach, Prof. Dr., Faculty of Humanities, University of Hamburg, Germany
André Goffinet, Prof. Dr., Neurobiology, University of Louvain, Belgium
Ingrid Gogolin, Prof. Dr. Dr. h.c. mult., Department of General, Intercultural and International Comparative Education & Educational Psychology, University of Hamburg, Germany
Mai He, Prof. Dr., School of Medicine, Washington University, St. Louis, USA
Martina Hentschel, Prof. Dr., Institute of Physics, TU Chemnitz, Germany
Michael Hietschold, Prof. Dr., Institute of Physics, TU Chemnitz, Germany
Burkard Hillebrands, Prof. Dr., Dept.
of Physics, TU Kaiserslautern, Germany
Florence Janody, Dr., i3S-Institute for Research and Innovation in Health, University of Porto, Portugal
Bernd Kaina, Prof. Dr., Institute of Toxicology, University of Mainz, Germany
Hideki Kakeya, Prof. Dr., School of Science and Technology, University of Tsukuba, Japan
Bernd Kretschmer, Dr. h.c., Physicist, Freiburg i. Brsg., Germany
Franz Kreupl, Prof. Dr., Dept. of Electrical and Computer Engineering, TU Munich, Germany
Jonathan Latham, PhD, Executive Director, The Bioscience Resource Project, Ithaca, New York, USA
Milton Leitenberg, Senior Research Fellow, Center for International and Security Studies, University of Maryland, USA
Alexander Lerchl, Prof. Dr., Biology and Ethics of Science & Technology, Jacobs University Bremen, Germany
Alexander Lichtenstein, Prof. Dr., I. Institute of Theoretical Physics, University of Hamburg, Germany

Steven Massey, Prof. Dr., Dept. of Biology, University of Puerto Rico, San Juan, Puerto Rico
Paul-Antoine Miquel, Prof. Dr., Contemporary Biology, Toulouse 2 University, France
Sven-Olaf Moch, Prof. Dr., II. Institute of Theoretical Physics, University of Hamburg, Germany
Michael Morrissey, Dr., Lecturer for English Studies, University of Kassel, Germany
Peter Oppeneer, Prof. Dr., Dept. of Physics and Astronomy, Uppsala University, Sweden
Anja Pistor-Hatam, Prof. Dr., Faculty of Arts and Humanities, University of Kiel, Germany
Arnaud Pocheville, Dr., CNRS Researcher, Evolution and Biological Diversity Laboratory, Paul Sabatier University, Toulouse, France
Steven Quay, MD, PhD, Former Facility, Stanford University School of Medicine, USA
Monali Rahalkar, Dr., Microbiologist, Agharkar Research Institute, Pune, India
Bahulikar Rahul, Dr., Plant Genetics and Taxonomy Expert, Development Research Foundation, Pune,
India
Jürgen Schmitt, Prof. Dr., Dept. of Physics, University of Hamburg, Germany
Nariyoshi Shinomiya, Prof. Dr., President of the National Defense Medical College, Saitama, Japan
Michael Stuke, Prof. Dr., Max Planck Institute for Biophysical Chemistry, Göttingen, Germany
Günter Theißen, Prof. Dr., Geneticist, University of Jena, Germany
André Thess, Prof. Dr., Engineering Sciences, University of Stuttgart, Germany

Ronny Thomale, Prof. Dr., I. Institute of Theoretical Physics, University of Würzburg, Germany
Michael Thorwart, Prof. Dr., I. Institute of Theoretical Physics, University of Hamburg, Germany
Rémi Tournebize, Dr., Genetics and Human Evolutionary Biology, Instituto Gulbenkian de Ciência, Oeiras, Portugal
Frank Wilhelm, Prof. Dr., Clinical Psychology, University of Salzburg, Austria
Allison Wilson, PhD, Science Director, The Bioscience Resource Project, Ithaca, New York, USA
Michael Winklhofer, Prof. Dr., Institute for Biology and Environmental Sciences, University of
Oldenburg, Germany

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