Forschende der Universität Duisburg-Essen (UDE) und des Leibniz-Instituts für Analytische Wissenschaften (ISAS) haben ein Mikroskop für die Hochdurchsatzanalyse von Arzneimittelsubstanzen entwickelt. Damit können 64 Proben gleichzeitig untersucht werden.
Immunzellen bekämpfen beispielsweise Infektionserreger oder suchen nach sich entwickelnden Krebserkrankungen. Dazu wandern sie permanent durch die Gewebe unseres Körpers. Am falschen Ort jedoch können Immunzellen wie Neutrophile Granulozyten auch Schäden anrichten: Infiltrieren diese weissen Blutkörperchen Tumoren, verschlechtert das häufig die Prognose für Patienten. Betroffene könnten daher von Arzneimitteln profitieren, die das Einwandern von Neutrophilen in Tumoren verhindern. Bisher liess sich dieses Migrationsverhalten nur mit herkömmlicher Videomikroskopie untersuchen. Mit dieser Technik beobachtet ein einzelnes Objektiv die Bewegung von Zellen unter dem Mikroskop – eine Probe nach der anderen, der Reihe nach.
Künftig 384 Proben gleichzeitig untersuchen
Das im Ruhrgebiet entwickelte «ComplexEye» (deutsch: Facettenauge oder Komplexauge) hingegen kann jetzt 64 und künftig 384 Proben gleichzeitig untersuchen. «Die Herausforderung war, miniaturisierte Mikroskope zu bauen, beweglich zu machen und so dicht zu einem System zusammenzufügen, dass sie Videos von jeder einzelnen der 384 Kammern einer Well-Platte, einer gängigen Untersuchungskassette, aufnehmen können», erklärt Dr. Reinhard Viga aus dem Fachgebiet Elektronische Bauelemente und Schaltungen der UDE. Der Elektroingenieur leitete den technischen Aufbau des neuen Mikroskops.
Wie das Facettenauge einer Fliege bewegt sich das ComplexEye unter der Well-Platte und macht gleichzeitig mit allen Linsen Aufnahmen im Abstand von acht Sekunden. Diese Aufnahmen fügen die Forschenden anschliessend zu einem Zeitraffervideo zusammen. Die in diesen Videos sichtbaren wandernden Zellen verfolgen die Forschenden anschliessend mithilfe von KI. In Zukunft soll das Mikroskop um weitere Linsen erweitert werden, sodass noch mehr Aufnahmen möglich werden.
«Wenn man wüsste, wie sich Neutrophile steuern lassen, würden sich viele Erkrankungen besser behandeln lassen», sagt Prof. Dr. Matthias Gunzer, Direktor am Institut für Experimentelle Immunologie und Bildgebung sowie Leiter der Abteilung Biospektroskopie am ISAS. Doch um solche Forschungsarbeiten voranzutreiben, fehlte es bisher an Untersuchungsmethoden, vor allem für die kleinen, schnell wandernden Immunzellen. Gunzer und seine Co-Autoren konnten nun mit der Technik des ComplexEye das Tempo bei der Migrationsanalyse drastisch erhöhen und berichteten darüber in der Fachzeitschrift Nature Communications.
60-mal schneller als herkömmliche Mikroskope
«Wir konnten in unseren Testläufen die Proben rund 60-mal schneller untersuchen als es mit herkömmlicher Videomikroskopie möglich gewesen wäre», erklären die beiden Erstautorinnen Zülal Cibir und Jaqueline Hassel der UDE. Um den Einfluss existierender Arzneimittelwirkstoffe auf die Migration von Neutrophilen zu untersuchen, haben die Forschenden rund 1000 Wirkstoffe aus einer Substanzbibliothek des Lead Discovery Centers Dortmund getestet. Für die anschliessende Analyse programmierten die KI-Experten am ISAS eine passgenaue Software. Mithilfe des KI-unterstützten ComplexEye-Systems identifizierten die Forschenden dann innerhalb von nur vier Tagen 17 Substanzen, welche die Beweglichkeit der humanen Neutrophilen stark beeinflussen können.
Zunächst sind die Erkenntnisse von grundlagenwissenschaftlichem Wert, aber die Forschenden hoffen, dass sich hieraus viele neue therapeutische Möglichkeiten ergeben. «Mit einigen kleineren Anpassungen lässt sich das ComplexEye auch für andere Zellen anwenden, um beispielsweise Krankheitsverläufe zu beobachten und dabei Frühwarnzeichen für eine Verschlimmerung von Infektionen wie drohende Blutvergiftungen zu erkennen», so Immunologe Gunzer.