Der Schweizer Chemie-Nobelpreisträger Richard R. Ernst ist am 4. Juni dieses Jahres im Alter von 87 Jahren verstorben. Ohne ihn sähe die Chemie heute wohl ganz anders aus. Seine Erkenntnisse revolutionierten auch fachfremde Disziplinen wie die Biologie oder die Medizin. Nur dank den wissenschaftlichen Grundlagen, die er mit seinen Kollegen erarbeitet hat, sind Technologien wie die Magnetresonanztomographie (MRT) heute in der Medizin eine Selbstverständlichkeit.
Richard R. Ernst sah sich selbst eher als Tüftler und nicht als Gelehrten im Elfenbeinturm. «Im Grunde bin ich nicht wirklich das, was man sich unter einem Wissenschaftler vorstellt, der die Welt verstehen will», sagte er einst in einem Interview. Er sei eher ein «Werkzeughersteller», der für andere solide Hilfsmittel herausfindet. Allerdings war ihm anfangs nicht bewusst, welches gesellschaftliche Potenzial in seiner neuen Werkzeugkiste schlummerte.
Eine Analytik auf neuem Niveau
Was wäre die Chemie ohne die Analytik? Gerade für die Synthesechemie liefert sie wertvolle Zwischenergebnisse und sorgt für saubere Resultate. Ganz hoch im Kurs bei den Organikern ist die Kernspinresonanzspektroskopie (NMR-Spektroskopie, siehe Kasten), mit deren Hilfe sich ganze Molekülstrukturen bestimmen lassen. Dass wohl mindestens ein Exemplar dieser NMR-Spektrometer in jedem chemischen Institut der Welt steht und für interpretierbare NMR-Spektren sorgt, haben wir unter anderen Richard R. Ernst zu verdanken. Er hat die chemische Analytik auf ein höheres Niveau befördert: In den Sechzigerjahren schaffte er es, die Messtechnik empfindlicher und die Spektren dadurch besser interpretierbar zu machen. Denn anfangs lieferten die NMR-Spektrometer Resultate, die sehr schnell sehr schwer zu interpretieren waren. Eine Probe liess sich nicht sinnvoll in Lösung analysieren – zu einfach war die Technik.
Abstecher in die Quantenwelt
In der Welt der kleinsten Teilchen dominieren die Gesetze der Quantentheorie. Die Protonen, aus denen die Atomkerne bestehen, gehorchen diesen Bestimmungen. Sie drehen sich um ihre eigene Achse und sind wie kleine Magnete. Wirkt ein äusseres Magnetfeld auf die Teilchen ein, richten sie sich entsprechend in dem für sie «angenehmeren» Zustand aus, so wie dies Magnete eben tun. Doch diese Idylle lässt sich durcheinanderbringen. Energie in Form von Radiowellen können die Teilchen anregen und so ihre Drehrichtung manipulieren: Die Protonen nehmen einen energetisch angeregten Zustand ein und drehen in die entgegengesetzte Richtung. Diesen Zustand halten sie nicht ewig und sie kehren in einen Normalzustand zurück (Relaxation). Dabei strahlen sie Radiowellen mit bestimmten Frequenzen ab. Für verschiedene Atomkerne und Isotope werden unterschiedliche Frequenzen ersichtlich. Dieses atomare Spiel ist die Kernspinresonanz. Die abgestrahlten Wellen im Zusammenspiel mit bestimmten anderen Atomkernen des Moleküls bilden die Grundlage für die Resultate, die die Chemiker anschliessend interpretieren, um Molekülstrukturen herzuleiten. Natürlich ist dieses Phänomen hier sehr vereinfacht dargestellt.
Im Rausch der Daten
Ernst änderte dies. Er erhöhte die Empfindlichkeit der Kernspinresonanzspektroskopie, indem er die Probe mit einem kurzen und intensiven Hochfrequenzimpuls anregen liess, anstatt sie kontinuierlich zu bestrahlen. Ein elektromagnetischer Gong erschüttert sozusagen die Probe. Als Antwort auf die Erschütterung strahlen bestimmte Atomkerne der Probe Radiowellen mit charakteristischen Frequenzen ab. Diese bilden – sehr vereinfacht ausgedrückt – das Resultat der Messung. Doch die so entstehenden Signale lassen eine einfache Interpretation noch nicht zu. Zu dicht sitzen sie aufeinander aufgrund des Glockenschlags. Sie präsentieren sich als ein undurchschaubares Rauschen als Funktion der Zeit (siehe Bild 2, oben). Ernst wandte daher einen mathematischen Trick (Fourier-Transformation, FT) an, wodurch leistungsstarke Rechner in der Lage sind, die Signale als Funktion der Frequenz in ein lesbares Spektrum umzuwandeln (siehe Bild 2, unten). Heutzutage sind praktisch alle NMR-Spektrometer eigentliche FT-NMR-Spektrometer.
Dies war das erste Tool des Werkzeugherstellers. Ein weiterer Meilenstein gelang ihm und seinem Team einige Jahre später: Sie entwickelten die zweidimensionale Kernspinresonanzspektroskopie (2-D-NMR). Sie lässt noch mehr Interpretationsmöglichkeiten zu und macht das Laborleben des Forschenden nochmals um einiges einfacher.
Der Gesellschaft verpflichtet
Für den Chemiker war klar: Forschende müssen gleichzeitig Lehrende sein. Und diese sind der Gesellschaft verpflichtet. In ihrer Rolle haben sie einen starken Einfluss auf die Zukunft. Die ersten erfolgreichen NMR-Experimente fanden schon 1945 statt, wofür die Physiker Felix Bloch und Edward Mills Purcell bereits 1952 mit dem Nobelpreis geehrt wurden. 1991 erhielt schliesslich Ernst selbst den Nobelpreis für Chemie «für seine Beiträge zur Entwicklung der hochauflösenden Kernresonanzspektroskopie». Seine Entdeckungen ermöglichten es, Molekülstrukturen in Lösungen aufzuklären, wodurch Verbindungen auch in der natürlichen Umgebung erfasst werden konnten. Dies ebnete schliesslich die Grundlage für die Magnetresonanztomographie (MRT).
Ernst schloss sein Chemie-Studium an der ETH Zürich ab und blieb mit einer Ausnahme der Hochschule treu. So wurde er 1968 – nach seiner Forschungstätigkeiten bei Varian Associates, wo er das FT-NMR entwickelte – Dozent an der ETH. 1976 arbeitete er als ordentlicher Professor, bis er schliesslich 1998 in den Ruhestand trat.
Am 4. Juni verstarb Richard R. Ernst in Winterthur nach langer Leidenszeit.
Roger Bieri