Die nächtliche Weinlese wird oft als Marketingargument benutzt, weil sie romantische Assoziationen weckt. Aber hat der Erntezeitpunkt überhaupt einen Einfluss auf die Aromabildung bei der Weinbereitung?
Einer der Hauptgründe für die nächtliche Weinlese besteht darin, die Qualität der Trauben zu erhalten und damit die Qualität des Weins zu verbessern. Durch die Weinlese in der Nacht können die Trauben bei einer niedrigeren Temperatur geerntet werden als tagsüber. Die Trauben müssen vor dem Pressen nicht gekühlt werden, und die Beeren sind widerstandsfähiger gegenüber niedrigeren Temperaturen.
Risiko unkontrollierter Gärung
Hohe Traubentemperaturen begünstigen eine suboptimale Gärung des Traubenmosts durch die auf den Beeren natürlicherweise vorhandenen Mikroorganismen. Diese unkontrollierte Gärung kann sich negativ auf den Geschmack des Weins auswirken und seine Qualität beeinträchtigen. Wenn die Trauben einen niedrigen Säuregehalt und einen hohen Zuckergehalt aufweisen – Eigenschaften, die durch wärmere Temperaturen begünstigt werden – ist das Risiko einer unkontrollierten Spontangärung noch höher.
Aus diesem Grund trägt die Ernte vor Tagesanbruch dazu bei, dass eine Erwärmung der Trauben vor der kontrollierten Gärung vermieden wird. Da die Trauben nicht mehr gekühlt werden müssen, sind auch erhebliche Energieeinsparungen möglich. Je nach Region und Klima ist die nächtliche Weinlese die Methode der Wahl. In gemässigten Regionen hingegen lässt sich der Nutzen in Frage stellen. Andererseits führt die globale Klimaerwärmung selbst in gemässigten Regionen wie der Schweiz zu früheren Ernten und heisseren Ernteperioden. Im Herbst, zur Zeit der Weinlese, begünstigen die zunehmenden Unterschiede zwischen Tag- und Nachttemperaturen die Qualität der Trauben für die Weinherstellung und bieten die Möglichkeit, die Temperatur der Trauben durch die Wahl des Erntezeitpunkts zu steuern. Der Temperaturunterschied bei einer Ernte in der Nacht bzw. während des Tags kann bei mehr als 15 Grad liegen.
Einfluss der Temperatur
Wie wirkt sich die Temperatur auf die Trauben aus? Wie bereits erwähnt, kann die spontane, unkontrollierte Gärung durch Mikroorganismen, die natürlicherweise auf den Beeren vorhanden sind, die Qualität des Weins beeinträchtigen. Daneben führen höhere Temperaturen aber auch zu chemischen Veränderungen und insbesondere zur Oxidation von Aromastoffen und von deren Vorstufen sowie zur Gefahr der Bildung von Fehlaromen durch spontane mikrobiologische Prozesse in fehlerhaften Trauben.
Das Aroma eines Weins hängt wesentlich von der aromatischen Ausgewogenheit des Produkts ab – wie dies auch bei Käse oder anderen Lebensmitteln der Fall ist. Das bedeutet, dass Aromastoffe verschiedener chemischer Familien im Endprodukt in Konzentrationen und Verhältnissen zueinander vorliegen müssen, die in einem subtilen Gleichgewicht stehen. Beispiele für Familien von Aromastoffen in Wein sind Alkohole (z. B. fruchtig, alkoholisch), Ester (z. B. fruchtig), Ketone (z. B. fruchtig, buttrig), Lactone (z. B. Note von Pfirsich, Kokosnuss) oder spezifische Schwefelverbindungen wie Thiole (z. B. Note von Passionsfrucht, schwarze Johannisbeere) und viele weitere.
Einige dieser Verbindungen sind bereits im Most vorhanden, andere entstehen während der Gärung oder bei der Reifung im Keller, wenn sich das Aroma diversifiziert und komplexer wird. Wie bereits erwähnt, können hohe Erntetemperaturen zu einer veränderten Produktion der Vorläufer von Aromastoffen in den Beeren führen. Dazu gehören namentlich die für die Sorte Sauvignon Blanc typischen Schwefelverbindungen. Sie machen nur einen kleinen Teil der insgesamt vorhandenen Stoffe aus, aber die aromatische Wirkung dieser Verbindungen ist für Sauvignon Blanc charakteristisch.
Merkmale von Sauvignon Blanc
Das sensorische Profil von Weinen der Sorte Sauvignon Blanc wird getragen durch flüchtige Thiole wie 3-Mercaptohexanol (3MH) und 3-Mercaptohexanol-acetat (3MHA), die Noten von Passionsfrucht, Grapefruit oder Stachelbeere vermitteln, sowie 4-Mercapto-4-methylpentan-2-on (4MMP) mit Noten von Buchsbaum, schwarzer Johannisbeere oder Katzenurin. Diese Thiole werden während der Gärung mit Hefe aus nicht-flüchtigen Vorläufern in den Beeren gebildet.
Neben diesen drei Thiolverbindungen gibt es Dutzende weiterer Verbindungen wie verschiedene höhere Alkohole und Ester, welche die Aromakomplexität von Sauvignon Blanc erhöhen. Bei kühleren Gärtemperaturen und damit auch bei kühleren Trauben zu Beginn der Gärung bleiben frische und fruchtige Aromastoffe im Allgemeinen besser erhalten als bei wärmeren Temperaturen während Ernte und Gärung.
Ergebnisse der vergleichenden Studie
Im Rahmen einer Zusammenarbeit zwischen Agroscope und dem Weinbauzentrum in Wädenswil wurde eine vergleichende Studie mit Trauben der Sorte Sauvignon Blanc durchgeführt, die am Ufer des Zürichsees geerntet wurden. Ziel des Projekts war es, die Auswirkungen des Erntezeitpunkts (Tag oder Nacht) auf die Qualität von Sauvignon-Blanc-Weinen aufzuzeigen. Die nächtliche Weinlese wurde zwischen 00.00 und 06.00 Uhr morgens durchgeführt. Die Ernte während des Tags fand zwischen 6.00 und 13.00 Uhr statt. Die Beerentemperatur lag bei 14 °C bzw. 27 °C, die Temperatur des Mosts bei 14 °C bzw. 25 °C. Für qualitative Ergebnisse zu den Aromaprofilen wurden Analysen des Mosts vor und nach der Gärung und der Weine mittels Gaschromatographie und Massenspektrometrie (GC/MS) vorgenommen.
Die Analyse zeigte, dass die für Sauvignon Blanc typischen Thiole 3MH und 4MMP bei den Weinen aus der nächtlichen Weinlese in höherer Konzentration vorhanden waren (Abb. 1). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Vorstufen dieser Verbindungen bei der nächtlichen Ernte im Allgemeinen besser erhalten bleiben. Auch die Analyse der flüchtigen Bestandteile ergab signifikante Unterschiede je nach Erntezeitpunkt. Von den mehr als 150 untersuchten Verbindungen waren bei den flüchtigen C6-Verbindungen und Estern die grössten Unterschiede festzustellen. Most und Wein aus Trauben der nächtlichen Weinlese enthielten höhere Konzentrationen an Aldehyden und C6-Alkoholen mit krautigen Aromen wie (Z)-2-Hexenal, Hexanal, 1-Hexanol, (Z)-3-Hexen-1-ol, (E)-3-Hexen-1-ol und (Z)-2-Hexen-1-ol bzw. (Z)-3-Hexen-1-ol, (E)-3-Hexen-1-ol und (Z)-3-Hexen-1-ol-acetat, als wenn sie während des Tages geerntet wurden (Abb. 2).
Auch Ester wie Ethylacetat, Ethyl-(Z)-2-butenoat, Ethylisovalerat, Isoamylacetat, Isobutylisovalerat, Ethyloctanoat und Ethyldecanoat mit charakteristischen fruchtigen Noten waren in Most der nächtlichen Weinlese in deutlich höheren Konzentrationen vorhanden (Abb. 3). Die Unterschiede der Ester-Konzentrationen waren beim Wein weniger ausgeprägt als beim Most vor der Gärung.
Diese Daten bestätigen den Einfluss der Erntetemperatur auf die Qualität des Mosts und das Aroma, wobei die nächtliche Weinlese ein fruchtigeres, exotischeres Aroma bewahrte, wohingegen eine Ernte während des Tages bei höheren Temperaturen zu einem krautigeren, laktischen Aroma führte. Zusätzlich können solche Aromaunterschiede bei der anschliessenden Gärung mit unterschiedlichen Hefen im fertigen Wein verändert oder verstärkt werden. Eine sensorische Bewertung durch ein Panel von dreizehn geschulten Verkostern ergab für Weine aus Trauben der nächtlichen Weinlese eine nicht signifikant höhere Punktzahl bei der Fruchtigkeit und eine signifikant höhere Punktzahl bei der Qualität/Finesse (Abb. 4). Dies zeigt, dass sich die gemessenen Unterschiede bei den Aromastoffen auch in einer unterschiedlichen Aromawahrnehmung beim Konsum niederschlagen.
Schlussfolgerung und neue Fragen
Zahlreiche äussere Parameter beeinflussen die Aromabildung im Most vor der Gärung und im daraus bereiteten Wein. Natürlich tragen die für die Gärung ausgewählten Hefen wesentlich zum endgültigen Aroma bei. Abgesehen von wirtschaftlichen und ökologischen Aspekten haben zu hohe Temperaturen bei der Ernte negative Auswirkungen auf die Bildung von Vorläufern von Aromastoffen im Most. Diese Studie wirft auch neue Fragen auf: Wirkt sich die nächtliche Weinlese auch bei anderen Rebsorten positiv aus? Führt die nächtliche Ernte in heissem und gemässigtem Klima zu denselben Ergebnissen? Übt auch die Art des Lichts während der Ernte einen Einfluss aus?
Pascal Fuchsmann, Thierry Wins, Ágnes Dienes Nagy, Stefan Bieri, Andreas Bühlmann, Agroscope