Gegenwärtig herrscht ein regelrechter Hype um den grünen Wasserstoff. Nicht nur die Fachwelt, sondern auch die Politik will grosse Potenziale in diesem Energieträger erkennen. Doch taugt das leichte Gas wirklich als Gamechanger in der Klimakrise? Ulf Bossel, promovierter Maschinenbauingenieur und Berater für nachhaltige Energielösungen, regt im folgenden Gastbeitrag zum Nachdenken an und warnt vor blinder Euphorie. Die Folgen einer Wasserstoffwirtschaft wären verheerend.
In vielen Hauptstädten, so auch in Berlin und Brüssel, werden Programme zur Realisierung einer Wasserstoffwirtschaft ohne ausreichende Berücksichtigung von physikalischen Zusammenhängen und technischen Grenzen formuliert. Offensichtlich hat der von Wasserstoffbefürwortern verbreitete Hype auch die politischen Kreise erreicht. Zu faszinierend ist die Idee, Wasserstoff zum universellen Energieträger zu machen, mit dem man alles antreibt, was sich bewegen soll, Gebäude heizt und überall vor Ort bedarfsgerecht Strom erzeugt.
Auch mich hat der Braunschweiger Professor Eduard Justi 1976 für eine Wasserstoffwirtschaft begeistern können. Um die Jahrtausendwende habe ich jedoch die Energiebilanz einer Wasserstoffwirtschaft kritisch analysiert und ernüchternde Ergebnisse erhalten. Mit dem Strom, der für die gesamte Wasserstoffkette insgesamt benötigt oder dabei verschwendet wird, lässt bei einer direkten Verteilung wesentlich mehr machen. Ich habe 2002 die Energiebilanz der Wasserstoffkette detailliert analysiert und diese mit dem Titel «The Future of the Hydrogen Economy: Bright or Bleak?» 2002 in englischer Sprache präsentiert und publiziert. Eine gekürzte Fassung meiner Arbeit ist 2010 unter «Wasserstoff löst keine Energieprobleme» von der Leibniz Gesellschaft ins Netz gestellt worden (www.leibniz-institut.de/archiv/bossel_16_12_10.pdf). Die Ergebnisse meiner Analyse sind in Bild 1 vereinfacht dargestellt.
Nachhaltige Mobilität: Fehlanzeige
Beispielsweise kann man vier Elektromobile mit dem Strom betreiben, der für die Wasserstoffversorgung eines baugleichen Brennstoffzellenautos benötigt wird. Mit Strom fährt man viermal weiter als mit Wasserstoff, oder benötigt für 100 km lediglich 18 statt 72 kWh (Bild 2). Die Verhältnisse verschlechtern sich weiter, wenn der Wasserstoffstrom importiert wird. Mit einheimischem Strom (hier im Beispiel für Deutschland) könnte man mit 18 kWh 100 km zurücklegen. Mit importiertem australischem Wasserstoff würde man für die gleiche Strecke insgesamt 100 kWh benötigen. Inzwischen ist auch die Klimaerwärmung durch Kohlendioxid dazugekommen. Ich habe meine Modellrechnungen von damals erweitert und erhalte ein sicherlich schockierendes Ergebnis für den importierten Wasserstoff (Bild 3). Das CO2 wird zum überwiegenden Teil von den Tankschiffen emittiert, die nicht mit sauberem Wasserstoff angetrieben werden können, weil die transportierte H2-Liefermenge gerade für Hin- und Rückfahrt reichen würde. Die Verwirklichung der Energie- und Klimawende ist mit einer Wasserstoffwirtschaft nicht möglich.
Wasserstoff ist bekanntlich keine Energiequelle, sondern ein künstlich mithilfe von Strom aus Wasser hergestellter Energieträger. Der vorwiegend von Sonne, Wind und Co. geerntete grüne Strom soll in Form von Wasserstoff verteilt und im Endbereich der Energienutzung wieder in Strom zurück verwandelt, beziehungsweise thermisch und chemisch genutzt werden. Er kann auch als Medium zur Energiespeicherung dienen. Die technischen Möglichkeiten sind vielfältig und faszinierend. Im Vergleich zu Erdgas bietet er klimafreundlichere Optionen für fast alle Sektoren der Energienutzung. Das motiviert nicht nur heranwachsende Ingenieure immer von neuem. Nach einigen Jahren der Begeisterung folgt jedoch die Ernüchterung. Wenn man sich mit den energetischen Aspekten einer Wasserstoffwirtschaft zu beschäftigen beginnt, wird schnell klar, dass sich die Energiezukunft nicht mit Wasserstoff gestalten lässt, denn Wasserstoff ist keine «unendliche» Energiequelle, sondern lediglich ein Energieträger. Mit der Umwandlung von grünem Strom in das Transportmittel Wasserstoff kann die Energieversorgung ebenso wenig gelöst werden wie die Wasserversorgung in der Sahelzone mit der Verteilung von Eimern.
Obgleich die technische Basis für eine Wasserstoffwirtschaft seit Jahrzehnten bekannt ist, folgt die Begeisterung für Wasserstoff einem Zyklus von etwa 20 Jahren. Ich habe vier solche Wellen zwischen 1960 und 2020 erlebt und mich 1980 ebenfalls begeistern lassen. Diese Schübe folgen nicht neuen Erkenntnissen, sondern sind vermutlich mit dem Lernprozess nachwachsender Generationen verbunden. Offenbar braucht es zehn Jahre, bis der anfangs faszinierte Einsteiger erkannt hat, dass sich die Energieversorgung nicht mit Wasserstoff sichern lässt. Dann folgen weitere zehn Jahre, bis diese Erkenntnisse wieder vergessen sind.
Anders lassen sich die Euphoriewellen nicht erklären, denn der fundamentale Energieerhaltungssatz behält auch für den künstlich hergestellten Energieträger ewige Gültigkeit. Für die Herstellung von Wasserstoff wird viel mehr Energie benötigt als jemals wieder zurückgewonnen werden kann, gleich wie man es macht. Erdgas, das mit vertretbarem Energieaufwand gefördert, gereinigt und verteilt werden kann, ist eine natürliche Energiequelle, also ein positiver Posten in der Energiebilanz. Der künstlich hergestellte Wasserstoff steht aber immer in der negativen Spalte. Mit Wasserstoff lässt sich das Energieproblem nicht lösen, auch wenn die Farbe Grün eine gute Klimabilanz verspricht.
Von der Wiege bis zur Bahre
Vermutlich fehlt diese Erkenntnis oft und vor allem bei der politischen Diskussion, die mit der Verknüpfung von technischen Lösungen begeistert, aber energetische Zusammenhänge nicht umfassend würdigt. Man behandelt Wasserstoff vereinfacht als ein Gas, das wie Erdgas komprimiert oder verflüssigt, in Pipelines, Tanklastwagen oder Tankschiffen transportiert, in Tanks oder Kavernen gelagert und problemlos verteilt und genutzt werden kann. Die physikalisch bedingten Unterschiede werden nicht wahrgenommen. Wasserstoffmoleküle mit einem Molekulargewicht von zwei verhalten sich ganz anders als die achtmal schwereren Erdgasmoleküle. Deshalb unterscheiden sich Energiebilanzen «von der Wiege bis zur Bahre» von Wasserstoff und Erdgas erheblich. In der allgemeinen Diskussion werden In der Regel nur technische Details der Wasserstoffwirtschaft dargestellt. Unbewusst, oft aber auch bewusst, verzichtet man auf die Präsentation einer Energiebilanz und auf eine Diskussion der energetischen Fakten und die sich daraus ergebenden Konsequenzen.
Hier nur einige Beispiele, die zum grossen Teil aus meiner Analyse «Wasserstoff löst keine Energieprobleme» stammen. Ein Liter verflüssigtes Erdgas hat einen Energieinhalt von 13,7 kWh. Im gleichen Volumen haben aber nur 2,36 kWh Flüssigwasserstoff Platz. Für die Verflüssigung von 1 kg Erdgas bei minus 104 °C werden 10 bis 20 %, für die Verflüssigung von 1 kg Wasserstoff bei minus 253 °C jedoch 30 bis 40 % des jeweiligen Brennwerts benötigt. Man preist die hohe gewichtsbezogene Energiedichte von Wasserstoff und vergisst, dass ein Kilogramm Wasserstoff unter Normalbedingungen 11 m3 Raum benötigt. Bei Erdgas sind es lediglich 2,5 m3. Bei gleichem Druck lässt sich in einem Tank 4,3-mal mehr Energie mit Erdgas als mit Wasserstoff speichern. Der Energietransport in Pipelines erfordert für Wasserstoff 1,4-mal mehr Energie als für Erdgas. Der Energiebedarf für die Kompression von Wasserstoff ist achtmal grösser als für Erdgas. Ein mit Benzin gefüllter Tanklastwagen liefert gleichviel Energie wie 20 Wasserstofflaster, von denen jeder bei 40 Tonnen Gesamtgewicht gerade einmal 250 kg Wasserstoff bei 250 bar transportieren kann. Inzwischen wird Wasserstoff mit 900 bar transportiert. Die ersparte Transportenergie entspricht etwa dem Mehraufwand für die Kompression. Für eine Verteilung von grünem deutschem Strom mit Wasserstoff müssen für Deutschland viermal mehr Windkraft oder Solaranagen gebaut werden als bei einer direkten Nutzung der geernteten Elektrizität. Bei aus Australien importiertem Wasserstoff liegt der Faktor bei fast sieben (Bild 2). Diese Beispiele verdeutlichen, dass Wasserstoff kein guter Energieträger ist.
Eine «Elektronenwirtschaft» führt schneller zum Ziel
In der auf technische und wirtschaftliche Machbarkeit gerichteten Diskussion wird Wasserstoff in fahrlässiger Vereinfachung als Gas betrachtet, das Erdgas ersetzt. Man spricht von einer Nutzung des bestehenden Gasnetzes und vergisst, dass hierfür nicht nur Elektrolysestationen, sondern auch Kompressoren, Verflüssigungsanlagen, Pipelines, Speicherbehälter, Ventile, Mess- und Regeltechnik sowie andere Gasbrenner benötigt werden. Die bestehenden Erdgasnetze und die installierte Technik müssen grundlegend überarbeitet werden. Das kosten nicht nur viel Geld und vor allem viel Zeit, die wir angesichts der drohenden Klimakatastrophe nicht mehr haben. Ein riesiger und völlig unnötiger Aufwand mit Verpflichtungen für kommende Generationen. Für die Lieferung des in Deutschland geernteten grünen Stroms besteht ein ausgebautes Netz. Mit geringen organisatorischen Veränderungen und einigen technischen Anpassungen kann der Verkehr kostengünstig mit Strom versorgt werden. Eine für alle Zeiten optimierte «Elektronenwirtschaft» ist wesentlich schneller zu schaffen als der Umstieg auf einen neuen Energieträger (Bild 4). Die Darstellung lässt erahnen, weshalb der Aufbau einer Wasserstoffwirtschaft so grosse Zustimmung findet. Es gibt viel zu tun für Forschung, Entwicklung und Industrie – und der Staat bezahlt. Während die Umstellung auf Wasserstoff ein Generationenprojekt ist, kann der elektrische Weg in wenigen Jahren abgeschlossen werden, also noch rechtzeitig zur Verhinderung einer Klimakatastrophe.
Ohne Energie- und CO2-Bilanzen
Offenbar haben Berlin und Brüssel erkannt, dass eine Wasserstoffwirtschaft mehr Energie verschlingt als in Mitteleuropa geerntet werden kann. Deshalb wird jetzt die Gewinnung von Wasserstoff in sonnenreichen Gegenden ins Spiel gebracht. Die mit Australien unterzeichnete Absichtserklärung lässt vermuten, dass Deutschland weder die Energiebilanz noch die Klimabilanz des Vorhabens geprüft hat. Die Fakten sind, höflich gesagt, ernüchternd. Der grösste Flüssiggastanker der Welt «Mozah» kann 266 000 m3 oder etwa 120 000 Tonnen Flüssiggas laden. Mit flüssigem Wasserstoff gefüllt beträgt die Nutzlast lediglich 18 600 Tonnen. Für die Rundreise von Hamburg nach Brisbane und zurück (28 000 km) werden etwa 35 000 Tonnen Dieselkraftstoff (tatsächlich dreckiges Bunkeröl) benötigt. Die in Hamburg mit dem flüssigen Wasserstoff angelandete Energiemenge ist nur etwa doppelt so gross wie die benötige Transportenergie. Ein Betrieb solcher Tanker mit Wasserstoff wäre kaum möglich, weil die zweite Hälfte der Ladung für die Rückfahrt des Tankers nach Brisbane benötigt würde. Der CO2-Ausstoss des Tankers ist immens. Durch Umstellung auf Wasserstoffautos könnten die globalen CO2-Emissionen nur unwesentlich verringert werden. Mit Wasserstoff im Strassenverkehr wird die Luft also nur etwas sauberer. Die Gesamtenergiebilanz verschlechtert sich weiter. Um eine Energieeinheit auf deutsche Strassen zu bringen, werden für australischen Wasserstoff etwa sieben Energieeinheiten benötigt: Wasser-Beschaffung (problematisch in sonnenreichen Gegenden) und Aufbereitung (9 kg Wasser je kg Wasserstoff), Elektrolyse, Betrieb der Solaranlage, Kompression und Beförderung bis zur Verflüssigungsanlage, Verflüssigung, Landtransport des Flüssigwasserstoffs bei minus 253 °C zum Tankschiff, Umfüllung, Seetransport nach Hamburg mit kontinuierlicher Nachkühlung, Abladen in Hamburg, Verteilung über Strasse, Bahn oder Pipelines, Umfüllen in die 30-bar-Tanks der Wasserstofftankstellen, Kompression auf 900 bar für Befüllung von Fahrzeugen sowie dem notwendigen Strombedarf für den Betrieb der gesamten Lieferkette. Mit der H2-Ladung eines einzigen Supertankers können etwa 87 000 mit Brennstoffzellen ausgestattete Fahrzeuge 20 000 km pro Jahr zurücklegen. Für den Betrieb aller deutschen Personenwagen mit australischem Wasserstoff müssten etwa 450 Tankschiffe ständig zwischen Hamburg und Australien unterwegs sein.
Energiespeicherung
Mit Wasserstoff kann man Sommerstrom für die Wintermonate speichern. Auch in diesem Fall können selbst bei effizienter Rückwandlung mit Brennstoffzellen vom grünen Primärstrom nur etwa 20 % dem Endverbrauch zugeführt werden. Wegen der geringen volumetrischen Energiedichte von Wasserstoff werden riesige Speichertanks für Hochdruck- und riesige Kavernen für Niederdruck-Speicherung benötigt. Auch synthetisch hergestellte Flüssigkeiten (Liquid Organic Hydrogen Carriers = LOHC) oder Gase (Methan) sind im Gespräch. Bei diesen Stoffen sinkt der Gesamtwirkungsgrad weiter auf unter 10 %. Zurzeit wird nachgedacht. Wirtschaftliche Lösungen sind noch keine in Sicht. Zuerst muss der Energiebedarf im Winter durch Gebäudeisolation und einige organisatorische Massnahmen drastisch gesenkt werden, damit eine saisonale Speicherung überhaupt machbar wird.
Fazit
Die Energiewende könnte so einfach und klimaschonend mit lokal geerntetem Strom, hoher Effizienz und kleinen Veränderungen der bestehenden Stromverteilung gestaltet werden. Mit einer Wasserstoffwirtschaft wird die dringend notwendige Energie- und Klimawende nicht zu verwirklichen sein. Wir haben Energie- und ein Umweltprobleme sofort zu lösen und sollten uns die wissenschaftliche Auffrischung von Altbekanntem ersparen, und vor allem Fehlinvestitionen vermeiden in eine Zukunft, die man schon bald als Sackgasse erkennen wird. Alle wesentlichen Kenntnisse und Verfahren für die Schaffung einer «Elektronenwirtschaft» sind vorhanden. Nur fehlt der politische Wille zum pragmatischen Einstieg in die Zukunft. Weshalb so kompliziert, wenn es auch einfach geht?
PhD. Ulf Bossel, Berater für nachhaltige Energielösungen
Kontakt
Ulf Bossel
PhD. (UC Berkeley), Dipl. Masch. Ing. (ETH Zürich)
Berater für nachhaltige Energielösungen
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