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Ein Wirkstoff, der die Stressreaktion blockiert

Gerät die natürliche Stressreaktion aus dem Gleichgewicht, führt dies zu körperlichen und psychischen Störungen. Forschende der ETH Zürich haben einen Wirkstoff entwickelt, der diese Reaktion spezifisch unterbinden kann.
Chronischer Stress kann zu vielfältigen körperlichen und psychischen Erkrankungen führen. (Bild: Envato)

Gerät die natürliche Stressreaktion aus dem Gleichgewicht, führt dies zu körperlichen und psychischen Störungen. Forschende der ETH Zürich haben einen neuen Wirkstoff entwickelt, der diese Reaktion spezifisch unterbinden kann.

Stress ist nicht nur ein bedrückendes Gefühl, wenn wir uns überfordert fühlen, sondern auch eine natürliche Reaktion des Körpers auf akute oder anhaltende Belastungen. Dank der Stressreaktion kann sich unser Organismus schnell an eine Gefahr oder an veränderte Umstände anpassen. Gerät die im Gefahrenmoment überlebenswichtige Reaktion aber ausser Kontrolle und wird zu einem dauerhaften Zustand, hat dies vielfältige negative Auswirkungen: Übergewicht, Herz-​Kreislauf-Erkrankungen, eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, Gedächtnisstörungen oder das Ausbilden einer Depression sind typische Folgeerscheinungen von chronischem Stress.

Die medizinische Behandlung setzt bisher fast ausschliesslich bei den Symptomen dieser Folgekrankheiten an. «Das einzige zugelassene Medikament, das direkt in die Regulation der Stressreaktion eingreift, hat viele unerwünschte Nebenwirkungen. Es ist als Abtreibungsmittel entwickelt worden und seine Wirkung gegen Stress ist eigentlich selbst nur eine Nebenwirkung», erklärt Katharina Gapp.

Die Leiterin der Gruppe für Epigenetik und Neuroendokrinologie am Institut für Neurowissenschaften der ETH Zürich hat jetzt in Zusammenarbeit mit drei weiteren ETH-​Forschungsgruppen einen vielversprechenden neuen Wirkstoff entwickelt. Dieser eliminiert in Zellkulturen und im Tiermodell ganz gezielt den sogenannten Glucocorticoid-​Rezeptor und damit die Schaltstelle der Stressauslösung. Stressbedingte Erkrankungen wie chronische Depressionen könnten somit in Zukunft sehr viel gezielter und mit weniger Nebenwirkungen behandelt werden.

Ohne Rezeptor kann Kortisol nicht wirken

Durch die Eliminierung des Rezeptorproteins verhindern die Forschenden, dass das Stress-​Hormon Kortisol die Reaktion überhaupt in Gang setzen kann. Denn erst wenn Kortisol an den Glucocorticoid-​Rezeptor gebunden ist, kann dieser die Gene anschalten, welche für die Stressreaktion verantwortlich sind. Die Folge: Typische Stresssymptome wie Erhöhung des Pulses, stärkere Durchblutung von Muskeln, Ankurbelung des Stoffwechsels, Dämpfung des Schmerzempfindens oder Erhöhung der Aufmerksamkeit.

Im Gegensatz zum oben erwähnten Abtreibungsmedikament wirkt das neue ETH-​Molekül praktisch ausschliesslich auf den Glucocorticoid-​Rezeptor. Dies gelingt dank der sogenannten «Protac»-​Methode (Proteolysis Targeting Chimeras). Mit dieser können die Rezeptorproteine gezielt einem natürlichen Proteinabbausystem der Zellen zugeführt werden.

Rezeptor und Enzym in die richtige Anordnung bringen

Protac-​Wirkstoffmoleküle sind aus zwei unterschiedlichen funktionellen Untereinheiten aufgebaut, die miteinander verbunden sind. Eine der zwei Einheiten bindet dabei spezifisch an ein Enzym, das Proteine chemisch markiert, die in der Zelle abgebaut werden sollen. Die zweite Untereinheit wird dann so konstruiert, dass sie möglichst spezifisch an das Zielprotein bindet, das ausgeschaltet werden soll. In dem das Wirkstoffmolekül Enzym und Zielprotein in unmittelbare räumliche Nähe zueinander bringt, sorgt es für die Markierung des Proteins und damit für dessen Abbau.

So elegant die Methode in der Theorie erscheint, so anspruchsvoll ist ihre Umsetzung im Labor. Damit die spezifische Markierung des Glucocorticoid-​Rezeptors funktioniert, müssen nämlich nicht nur die zwei funktionellen Untereinheiten möglichst spezifisch an das Markierungsenzym und an den Rezeptor binden. Auch die Länge und die Art der Verbindung zwischen den beiden Untereinheiten muss genau zum spezifischen Enzym-​Zielprotein-Paar passen.

Das Design, die Synthese und das Austesten von möglichen Protac-​Wirkstoffen benötigte spezifisches Fachwissen aus unterschiedlichsten Bereichen. Gapp konnte dafür auf die Kompetenzen von drei ETH-​Forschungsgruppen zählen. So entwarfen und synthetisierten organische Chemiker Molekülvarianten, eine Gruppe vom Labor für Bio-​Engineering führte Messungen in Zellsystemen durch und Mitarbeitende der Gruppe für molekulare Verhaltensneurowissenschaften halfen schliesslich die Wirkung in Mäusen zu testen. «Das Projekt ist laufend grösser und komplexer geworden,» blickt Gapp fasziniert zurück.

Die nächsten Schritte zum Medikament

In den nächsten Schritten auf dem Weg zum Medikament geht es nun darum, die Details der Wirkungsweise des Moleküls in den Zellen, seine Dosis-​Wirkungsbeziehungen, seine Wechselwirkungen mit anderen Molekülen sowie seine Aufnahme, Verteilung und Verstoffwechselung im Organismus zu verstehen. Bis zu den ersten Anwendungen in Patienten werden auch im besten Fall noch mehrere Jahre vergehen.

Gapp ist aber überzeugt, dass die Protac-​Methode ein grosses Potenzial für neue Medikamente besitzt: «Im Gegensatz zu bestehenden Wirkstoffen, die immer nur jeweils einen Rezeptor blockieren können, ist ein einzelnes Protac-​Molekül in der Lage, nacheinander sehr viele Zielproteine zu markieren.» Entsprechend gering sind die nötigen Dosierungen und damit auch die möglichen Nebenwirkungen.

Daniel Meierhans, ETH

https://ethz.ch

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