Acetamiprid ist für bestimmte Insekten über 11000-mal giftiger als die vorgeschriebenen Empfindlichkeitstests, zum Beispiel an Honigbienen, vermuten lassen. Die Folgen dieses Insektizids für Nicht-Zielinsekten haben Forschende der Universität Hohenheim in Stuttgart aufgedeckt. Ihr Fazit: Die aktuelle Risikobewertung von Pestiziden muss dringend reformiert werden, um langfristige Gefahren für Insektenpopulationen und die biologische Vielfalt auszuschliessen.
Weichwanzen (Miridae) gehören zu den pflanzenfressenden Insekten, einer Tiergruppe, die im Ökosystem eine Schlüsselrolle einnimmt. Das Problem: Weichwanzen reagieren besonders empfindlich auf Insektizide. Bereits geringe Mengen – wie sie durch Abdrift oder Oberflächenkontamination entstehen – führen zu massiven Rückgängen dieser Tiere. Allgemein zeigen Studien weltweit Rückgänge in Biomasse, Vielfalt und Anzahl von Insekten, unter anderem durch den intensiven Einsatz von Insektiziden.
Naturnahe Lebensräume sind zunehmend mit Pestiziden belastet – selbst in nicht landwirtschaftlich genutzten Gebieten und Naturschutzgebieten. Bislang gibt es nur wenige Studien, die die Auswirkungen von Pflanzenschutzmassnahmen auf sogenannte Nicht-Zielinsekten, also andere als die zu bekämpfenden Arten, unter realen Feldbedingungen untersuchen.
Einziges in EU zugelassenes Freiland-Neonikotinoid
Forschende der Universität Hohenheim haben nun in einer Reihe von Feld-, Gewächshaus- und Laborexperimenten untersucht, welchen Einfluss das Neonikotinoid-Insektizid «Mospilan SG» (Wirkstoff: Acetamiprid) auf Weichwanzen haben kann. Acetamiprid wird weltweit neben anderen Neonikotinoiden eingesetzt, in der EU ist es jedoch das einzige Neonikotinoid, das noch für den Einsatz im Freiland zugelassen ist.
Mospilan SG wird durch Sprühen ausgebracht und in Feldkulturen wie Raps und Kartoffeln, in Obstgärten, im Weinbau und in der Blumenzucht insbesondere gegen beissend-saugende Schädlinge eingesetzt. Als Nervengift wirkt Acetamiprid sowohl als Kontakt- sowie auch als systemisches Insektizid, da die Chemikalie von Pflanzen aufgenommen und in ihrem Gewebe verteilt werden kann. Pflanzenfressende Insekten nehmen die Substanz dann mit ihrer Nahrung auf.
Weichwanzen stehen für Insektenfamilien
Im Fokus der Untersuchungen standen Weichwanzen, da diese eine vielfältige und weit verbreitete Familie mit vielen pflanzenfressenden Insekten darstellt, die oft auf Gräser als Nahrungsquelle spezialisiert sind. «Die grosse Vielfalt und Häufigkeit dieser Gruppe lässt auf eine zentrale Funktion für das Ökosystem schliessen», erklärt Prof. Dr. Georg Petschenka, Entomologe an der Universität Hohenheim. «Sie sind mit Sicherheit eine wichtige Nahrungsquelle für Vögel und eine Vielzahl räuberischer wirbelloser Tiere.»
Bei ihren Untersuchungen fokussierten sich die Forschenden auf drei in Deutschland häufig vorkommende Arten: Zweifleck-Weichwanze (Stenotus binotatus), die Langhaarige Dolchwanze oder Graswanze (Leptopterna dolabrata) und die Grosse Graswanze (Megaloceroea recticornis). Sie können als repräsentativ für pflanzenfressende Nicht-Ziel-Insekten betrachtet werden.
Alarmierend: Gefahr systematisch unterschätzt
Die Ergebnisse alarmieren, weil sich das Neonikotinoid auf die Weichwanzen als Beispielinsekten um ein Vielfaches verheerender auswirkte, als Zulassungstests vermuten lassen. «Insektizide sollen gezielt gegen Schädlinge wirken und Nützlinge möglichst schonen, deshalb wurden Neonikotinoide zum Beispiel auch an Honigbienen getestet», erläutert Jan Erik Sedlmeier, Doktorand. «Unsere Versuche zeigen jedoch, dass das Insektizid Acetamiprid für manche Weichwanzen über 11000-mal toxischer ist als für Honigbienen.»
Zu diesem Ergebnis kamen die Forschenden durch Laborexperimente mit dem sogenannten LD50-Vergleich. Dabei wird untersucht, welche Dosis notwendig ist, um 50 Prozent der Individuen einer Population zu töten.
Auch im Feldexperiment reagierten alle vorkommenden Weichwanzenarten sehr empfindlich auf das Neonikotinoid. So nahm ihre Anzahl nach nur zwei Tagen in Flächen, die Feldränder von behandelten Flächen simulierten um bis zu 92 Prozent ab. «Dabei werden an den Feldrändern geschätzt nur zwischen 30 und 58 Prozent der Pestizidmenge im Feld erreicht – Konzentrationen, die normalerweise nicht als derart gefährlich angesehen werden», betont Sedlmeier.
Lebensräume und ganze Populationen gefährdet
Selbst bei Weichwanzen, die mit den Insektizid gar nicht unmittelbar in Berührung kommen, beobachteten die Forschenden starke Einbussen, wenn sie die Insekten auf Wirtspflanzen setzten, die zwei Tage zuvor mit nur 30 Prozent der üblichen Insektizidkonzentration behandelt worden waren. Die Zweifleck-Weichwanze überlebte in diesem Szenario gar nicht.
Darüber hinaus konnten die Forschenden Rückstände des Wirkstoffs bis zu 30 Tage nach der Anwendung in den Geweben der behandelten Pflanzen nachweisen. Der Doktorand hebt die Problematik hervor: «Eine ständige Einwirkung von Neonikotinoiden kann somit nicht nur ganze Populationen von Weichwanzen drastisch verringern. Sie kann auch die Zusammensetzung von Insektengemeinschaften verändern, indem insektizidtolerantere Arten mit der Zeit dominieren könnten.»
Zulassungsverfahren erlauben keine guten Prognosen
Auffällig war ausserdem, dass die Sterblichkeit der Weichwanzen je nach Art stark variierte. Vor allem die kleinste der drei untersuchten Arten, die Zweifleck-Weichwanze, reagierte signifikant empfindlicher auf das Insektizid als die beiden anderen Arten. Ein weiterer alarmierender Befund: Bei zwei der getesteten Arten waren die Männchen 20-mal empfindlicher als die Weibchen.
«Idealerweise sollen sich moderne Insektizide möglichst zielgenau gegen konkrete Zielschädlinge richten und möglichst gegenüber Nicht-Zielinsekten weniger giftig sein. Die Ergebnisse zeigen jedoch, dass die Empfindlichkeit gegenüber Insektiziden selbst zwischen eng verwandten Arten sehr stark variiert. Wie giftig ein Insektizid gegenüber Nicht-Zielinsekten tatsächlich ist, lässt sich daher auf Basis vereinzelter Empfindlichkeitstests nur schwer vorherzusagen», fasst Sedlmeier seine Ergebnisse zusammen.
«Das EU-Registrierungsprotokoll für Insektizide verlangt zwar Empfindlichkeitstests für eine begrenzte Anzahl von Nicht-Zielinsekten. Doch ausgerechnet pflanzenfressende Insekten wurden weitgehend vernachlässigt, obwohl sie weltweit etwa 50 Prozent aller Insektenarten ausmachen.»
Prof. Dr. Petschenka, Universität Hohenheim
Hinzu kommt, dass die Giftigkeit für pflanzenfressende Insekten derzeit noch gar nicht überprüft wird: «Das derzeitige EU-Registrierungsprotokoll für Insektizide verlangt zwar Empfindlichkeitstests für eine begrenzte Anzahl von Nicht-Zielinsekten, wie die Honigbiene, parasitische Wespen, Raubmilben und einzelne Vertreter von Käferfamilien. Doch ausgerechnet pflanzenfressende Insekten wurden weitgehend vernachlässigt, obwohl sie weltweit etwa 50 Prozent aller Insektenarten ausmachen», bedauert Prof. Dr. Petschenka.
Grundlegende Fragen zur Risikobewertung aufgeworfen
Angesichts der Verlängerung der Zulassung von Acetamiprid bis 2033 fordern die Forschenden eine grundlegende Reform des europäischen Risikobewertungssystems. Ein wichtiger Schritt ist die Ausweitung der Empfindlichkeitstests auf weitere Insektengruppen, darunter besonders auf pflanzenfressende Insekten.
Darüber hinaus müsse der bisherige Unsicherheitsfaktor in den Empfindlichkeitstests von 10 auf mindestens 1000 angehoben werden, um artspezifische und geschlechtsspezifische Unterschiede angemessen zu berücksichtigen. Ebenso sollten Feldränder verstärkt geschützt werden, um die für das ökologische Gleichgewicht entscheidende Biodiversität langfristig zu sichern.
Besonders problematisch ist aus Sicht der Forschenden, dass in Deutschland (und auch der Schweiz) Feldränder mit einer Breite von weniger als drei Metern nicht als schützenswerte Habitate gelten, obwohl sie als wichtige Rückzugsorte innerhalb moderner Agrarlandschaften fungieren. «Dadurch bleiben zahlreiche Lebensräume dieser Insekten ungeschützt, obwohl sie einer hohen Belastung durch Abdrift und Oberflächenkontamination ausgesetzt sind», schliesst der Experte. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Nature Communications Earth & Environment publiziert.
Dr. Ursel Stuhlemmer