Herausforderungen können ganze Industrien beflügeln. An der Klima- und Umweltproblematik beissen sich Forschende aus aller Welt beinahe die Zähne aus. Die Kunststoffindustrie arbeitet seit Jahren am Konzept der «Kreislaufwirtschaft». In der klassischen Chemie- und Pharmaindustrie wird dieser Begriff seltener verwendet. Hier soll die Grüne Chemie die Branche umweltfreundlicher und nachhaltiger machen. Doch wie soll dies gelingen? Und was ist überhaupt die Grüne Chemie?
Wer denkt, das Prinzip der Kreislaufwirtschaft sei ein neues Phänomen, der irrt gewaltig. Schon im Spätmittelalter war das Bewusstsein für die Wiederverwertung von Rohstoffen allgegenwärtig. Damals zogen Lumpensammler von Haus zu Haus und erbettelten Textilreste aller Art. Sie verkauften die gesammelten Stoffabfälle den Papiermühlen zur Herstellung von Papier.
In Basel produzierten im Spätmittelalter 15 Papiermühlen unterschiedliche Papiere. Europaweit waren die Basler Papiere bekannt und zeugten von hoher Qualität. Aber zurück in die Gegenwart: Die Papierherstellung ist Vergangenheit und heute ist die Stadt längst ein Inbegriff für die weltweite Chemie- und Pharmabranche geworden. Und auch diese Industrie kennt die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft. Sie nennt sie aber anders. Man spricht von der sogenannten Grünen Chemie. Dieser wachsende Zweig der Chemie hat sich zum Ziel gesetzt, die chemische Produktion umweltschonender und gleichzeitig energiesparender zu gestalten. Dabei nutzt er neue technische Methoden und greift auch fachfremde Konzepte auf. Die Grüne Chemie ist keineswegs ein neuartiges Marketingphänomen, sie gibt es schon seit Jahrzehnten. Ihre Anfänge reichen bis in die Sechzigerjahre zurück.
Die Geburtsstunde der Grünen Chemie
Damals schrieb die Biologin und Wissenschaftsjournalistin Rachel Carson ihr berühmtestes populärwissenschaftliches Fachbuch «Silent Spring» (auf Deutsch: «Der stumme Frühling»). Darin kritisierte sie die schädlichen Auswirkungen von Chemikalien, wie dem Insektizid DDT, auf die Umwelt und die Gesundheit bei Tier und Mensch. Das Buch zeigte Wirkung. Die breite Öffentlichkeit aber auch die Wissenschaftscommunity musste die Problematik anerkennen. Für die Amerikanische Chemische Gesellschaft gilt die Veröffentlichung dieses Buches als Geburtsstunde der Grünen Chemie.
In den folgenden Jahren entstanden überall auf der Welt Institutionen, die sich der Umweltproblematik verschrieben haben. In der Schweiz gründete die Politik das Bundesamt für Umwelt (Bafu), in den USA die Schwesterbehörde United States Environmental Protection Agency (EPA).
Der zaghafte Weg in die Industrie
Heute hat es die Grüne Chemie in die Industrie geschafft. Eines der berühmtesten Errungenschaften ist die Prozessoptimierung des Schmerzmittels Ibuprofen. Bereits 1997 ehrte die US-amerikanische Umweltschutzbehörde das schonende Verfahren mit dem «Presidential Green Chemistry Award».
Oft wird die Grüne Chemie in 12 Prinzipien (siehe weiter unten) eingeteilt. Es sind zwölf Richtlinien, die alle auf das eine Ziel hinauslaufen: eine sauberere und dennoch wirtschaftliche Chemie. Die Prinzipien greifen tief in das Tagesgeschäft der Forschung und Produktion ein und fordern ein technisches Umdenken. Chemiker und Chemieingenieure müssen diese Regeln in ihr Handwerk integrieren.
Einige Prinzipien haben dank bestimmten Regulierungen und den modernen technischen Möglichkeiten einen festen Platz in der Industrie und in der Ausbildung neuer Fachkräfte eingenommen. Sie sind eine solche Selbstverständlichkeit geworden, dass wir sie gar nicht mehr als typisch «grün» wahrnehmen. Bei anderen Punkten gibt es noch ein gewaltiges Potenzial nach oben. Aber machen Sie sich doch besser selbst ein Bild:
Die zwölf Prinzipien der Grünen Chemie
Die 12 Prinzipien | Erläuterung |
1. Echtzeitanalysen | Während des Prozesses sollte man die Reagenzien und Zwischenprodukte mit geeigneter Analytik immer im Blick halten. Nur so kann man rechtzeitig eingreifen und sicherheitsrelevante Störungen oder unbrauchbare Zwischenprodukte vermeiden. Dies ist bereits goldener Standard in der Pharmaindustrie. |
2. Atomökonomie | Theoretisch sollten möglichst alle Atome der Ausgangsstoffe im Endprodukt wieder zu finden sein, so dass der Verlust minimal bleibt. |
3. Produkte aus erneuerbaren Rohstoffen | Hier ist vor allem die Verwendung von Erdöl ein grosses Problem. Vanillin wird beispielsweise aus Holz gewonnen. |
4. Unfallverhütung | Dies setzt ein hohes Verständnis für die einzelnen Prozessschritte voraus. |
5. Effiziente Katalysatoren | Beispielsweise könnten bestimmte Reaktionen erst dank den trickreichen Enzymen stattfinden. |
6. Ungefährliche Synthesen | Wenn ungefährliche Alternativen existieren, sollte man sich immer für diese entscheiden. |
7. Sicherere Lösungsmittel | Dies ist nicht nur besser für die Umwelt, sondern auch für die Mitarbeitenden. |
8. Modifikationen von Molekülen vermeiden | Vermeidung von Schutzgruppen, da diese im Endeffekt Abfall generieren. |
9. Energieeffizienz | Reaktionen sollten am besten bei Raumtemperatur und Atmosphärendruck stattfinden. |
10. Sichere Chemikalien | Wieder: Hier steht sowohl der Schutz der Umwelt als auch der Mitarbeitenden im Fokus. |
11. Abfallvermeidung | Bereits von Anfang an sollte man stets versuchen, Abfälle so gering wie möglich zu halten, damit die Kläranlagen so wenig wie möglich beansprucht werden. |
12. Umweltfreundlich und abbaubar | Es muss sichergestellt werden, dass die Produkte abbaubar sind und der Umwelt so wenig wie möglich schaden. |
Roger Bieri