Wissenschaftliche Labore in Disziplinen wie der Chemie, Biochemie oder Materialwissenschaft stehen vor einem tiefgreifenden Wandel. Gemäss einer Studie der University of North Carolina Chapel Hill (US) ermöglichen die Roboterautomatisierung und künstliche Intelligenz schnellere und präzisere Experimente, welche zu Durchbrüchen führen werden. Doch was bedeutet das auf der Umsetzungsebene?
«Die Entwicklung neuer Moleküle, Materialien und chemischer Systeme erfordert heute einen intensiven menschlichen Einsatz», konstatiert Dr. Ron Alterovitz, Hauptautor der Studie und Lawrence Grossberg, Professor in Computerwissenschaften. «Forschende müssen Experimente planen, Materialien synthetisieren, die Ergebnisse analysieren und diese Prozesse wiederholen, bis die gewünschten Eigenschaften erreicht sind.»
Dieser zeit- und arbeitsintensive Trial-and-Error-Ansatz verlangsamt das Tempo von Entdeckungen. Automatisierte Systeme hingegen können Experimente kontinuierlich und ohne menschliche Ermüdung durchführen, was die Forschung erheblich beschleunigt. Roboter führen nicht nur präzise Versuchsschritte mit grösserer Beständigkeit aus als Menschen, sie verringern auch die Sicherheitsrisiken beim Umgang mit gefährlichen Substanzen. Durch die Automatisierung von Routineaufgaben können sich Wissenschaftler auf übergeordnete Forschungsfragen konzentrieren und so den Weg für schnellere Durchbrüche in den Bereichen Medizin, Energie und Nachhaltigkeit ebnen.
«Die Robotik hat das Potenzial, unsere alltäglichen wissenschaftlichen Labors in automatisierte Fabriken zu verwandeln, welche die Entdeckungen beschleunigen. Doch dazu brauchen wir kreative Lösungen, die es Forschenden und Robotern ermöglichen, in derselben Laborumgebung zusammenzuarbeiten», so Dr. James Cahoon, Mitautor der Studie und Vorsitzender des Fachbereichs Chemie. «Wir gehen davon aus, dass Robotik und Automatisierung bei fortgesetzter Entwicklung die Geschwindigkeit, Präzision und Reproduzierbarkeit von Experimenten über verschiedene Instrumente und Disziplinen hinweg optimieren und Daten erzeugen werden, die von Systemen der künstlichen Intelligenz analysiert werden können, um weitere Experimente anzuleiten.
Fünf Stufen der Laborautomatisierung
Die Forschenden definierten fünf Stufen der Laborautomatisierung, um zu veranschaulichen, wie sich die Automatisierung entwickeln kann:
- Assistierende Automatisierung: Auf dieser Stufe werden einzelne Aufgaben, wie z. B. die Handhabung von Flüssigkeiten, automatisiert, während Menschen den Grossteil der Arbeit erledigen
- Teilautomatisierung: Roboter führen mehrere aufeinander folgende Schritte aus, wobei der Mensch für die Einrichtung und Überwachung zuständig ist
- Bedingte Automatisierung: Roboter steuern den gesamten Versuchsablauf, wobei bei unerwarteten Ereignissen ein Mensch eingreifen kann
- Hohe Automatisierung: Roboter führen selbstständig Experimente durch, richten Geräte ein und reagieren selbständig auf ungewöhnliche Bedingungen
- Vollständige Automatisierung: In dieser letzten Stufe arbeiten Roboter und KI-Systeme völlig autonom, einschliesslich Selbstwartung und Sicherheitsmanagement
Die von den amerikanischen Forschenden definierten Automatisierungsgrade haben folgenden Zweck: Sie können zur Bewertung des Fortschritts auf diesem Gebiet herangezogen werden, helfen bei der Festlegung geeigneter Sicherheitsprotokolle und setzen Ziele für die künftige Forschung – sowohl in wissenschaftlichen Bereichen als auch in der Robotik. Während heute niedrigere Automatisierungsgrade bereits üblich sind, stellen hohe und vollständige Automatisierungsgrade eine Herausforderung dar. Roboter müssen in der Lage sein, in verschiedenen Laborumgebungen zu arbeiten, komplexe Aufgaben zu bewältigen und nahtlos mit Menschen und anderen Automatisierungssystemen zu interagieren.
KI muss sorgfältig überwacht werden
Eine Schlüsselrolle spielt dabei die künstliche Intelligenz, welche bei der Weiterentwicklung der Automatisierung über physische Aufgaben hinausgeht. KI kann grosse, durch Experimente erzeugte Datensätze analysieren, Muster erkennen und neue Verbindungen oder Forschungsrichtungen vorschlagen. Durch die Integration von KI in den Arbeitsablauf im Labor können Labore den gesamten Forschungszyklus automatisieren – von der Planung von Experimenten über die Synthese von Materialien bis hin zur Analyse der Ergebnisse.
In KI-gesteuerten Labors kann die traditionelle DMTA-Schleife (Design-Make-Test-Analyze) völlig autonom werden. KI könnte bestimmen, welche Experimente durchgeführt werden sollen, Anpassungen in Echtzeit vornehmen und den Forschungsprozess kontinuierlich verbessern. Obwohl KI-Systeme bereits erste Erfolge bei Aufgaben wie der Vorhersage chemischer Reaktionen und der Optimierung von Synthesewegen erzielt haben, warnen die Forschenden, dass KI sorgfältig überwacht werden müsse, um Risiken wie die versehentliche Erzeugung gefährlicher Stoffe zu vermeiden.
Die Umstellung auf automatisierte Labore ist mit erheblichen technischen und logistischen Herausforderungen verbunden. Denn Labore sind sehr unterschiedlich aufgebaut und reichen von der Kleinumgebung mit nur einem Prozess bis hin zu grossen Einrichtungen mit mehreren Räumen. Für die Entwicklung von flexiblen Automatisierungssystemen, die in verschiedenen Umgebungen funktionieren, werden mobile Roboter benötigt, die Gegenstände transportieren und Aufgaben an mehreren Stationen ausführen können.
Forschende müssen Automatisierung verstehen
Ebenso wichtig ist die Schulung für die Arbeit mit fortschrittlichen Automatisierungssystemen. Forschende müssen nicht nur Fachwissen in ihren wissenschaftlichen Bereichen entwickeln, sondern auch die Möglichkeiten von Robotern, Datenwissenschaft und KI verstehen, um ihre Tätigkeiten zu beschleunigen. Die Ausbildung der nächsten Generation von Forschenden, die mit Ingenieuren und Informatikern zusammenarbeiten können, wird für die Ausschöpfung des vollen Potenzials automatisierter Labore entscheidend sein.
«Die Integration von Robotik und KI wird die wissenschaftlichen Labore revolutionieren», sagt Angelos Angelopoulos, Mitautor der Studie und wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Computational Robotics Group von Dr. Alterovitz. «Durch die Automatisierung von Routineaufgaben und die Beschleunigung von Experimenten besteht ein grosses Potenzial für die Schaffung einer Umgebung, in der Durchbrüche schneller, sicherer und zuverlässiger als je zuvor erzielt werden.» Die Studie wurde in der Fachzeitschrift Science Robotics publiziert.
Dave DeFusco, University of North Carolina Chapel Hill
Übersetzung aus dem Englischen: ChemieXtra