Die Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW) veranstaltete Ende August in Bern ein Forum, an dem führende Persönlichkeiten aus der Chemie- und Pharmaindustrie, der Wissenschaft und Verwaltung teilnahmen. Diskutiert wurde ein drängendes Thema: Wie können wir die Schweizer Chemieindustrie defossilieren?
Seit etwa 70 Jahren sind Erdöl und Erdgas zentrale Grundstoffe für die chemische Produktion, welche aber heute bezüglich Klimaauswirkungen und Versorgungssicherheit kritisch beurteilt werden. Die Umstellung auf alternative Kohlenstoffquellen ist ein entscheidender Schritt, um Treibhausgasemissionen zu senken und die Kreislaufwirtschaft zu stärken. Die Defossilierung kann die Chemie nicht vom Kohlenstoff befreien – schliesslich ist dieses Element essenziell für die organische Chemie –, aber durch die Nutzung von Biomasse, CO₂-Verwertung (CCU) und intelligentem Recycling kann die Produktion nachhaltiger und wirtschaftlich zukunftssicher gestaltet werden.
Potenziale und Hürden
- Reduktion und Recycling: Recyclingprozesse sind etabliert. Die Integration der Biotechnologie für komplexe Molekülstrukturen könnte helfen, Rohstoffe weiter zu reduzieren. Biokatalyse anstelle von Chemokatalyse spart Ressourcen und ist effizienter.
- Biomasse als Rohstoff: Aufgrund der Knappheit und des hohen Aufbereitungsbedarfs ist Biomasse nur für spezifische Produkte wie Feinchemikalien und Pharmazeutika geeignet. Dennoch bleibt Biomasse ein vielversprechender Rohstoff, besonders für hochwertige Chemieprodukte.
- CO₂ als Rohstoff: Carbon Capture and Utilization (CCU) könnte nicht nur das Klima entlasten, sondern CO₂ als wertvolle Ressource nutzen. Trotz technischer Fortschritte bleibt die CO₂-Abscheidung jedoch teuer. Auch muss kostengünstiger grüner Wasserstoff für die Chemie verfügbar sein, da er entscheidend für die Umwandlung von CO₂ in Kohlenwasserstoffe ist.
Herausforderung Wasserstoff
Erneuerbare Hochtemperaturwärme wird in der Chemieindustrie gebraucht, und Wasserstoff könnte auch hier entscheidend sein. Die Schweiz hat kein eigenständiges Wasserstoffnetzwerk und produziert grünen Wasserstoff bisher in relativ geringen Mengen für Nischenanwendungen. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, wird die Schweiz wohl zunehmend auf Importe setzen müssen. Dabei ist die Anbindung an das geplante europäische Wasserstoffnetzwerk entscheidend. So könnten zukünftig Länder wie Oman aufgrund besserer Produktionsbedingungen Wasserstoff kostengünstig für die Schweiz bereitstellen – falls geeignete Transportinfrastrukturen und Lieferabkommen vorhanden sind.
Standort Schweiz: Fit für die nachhaltige Chemie?
Die Teilnehmer des Forums waren sich einig, dass klarere regulatorische Rahmenbedingungen entscheidend sind. Dazu gehört eine transparente Kostenstruktur für Treibhausgasemissionen sowie eine allgemeingültige Definition von «Nachhaltigkeit», die auch für öffentliche Ausschreibungen bindend sein könnte. Die Schweizer Finanzindustrie hat hier einen erheblichen Hebel, denn nachhaltige Finanzprodukte könnten Defossilierungsprozesse gezielt unterstützen.
Die SATW plant, dieses Thema weiter zu verfolgen und das bestehende Netzwerk für branchenübergreifende Lösungen zu nutzen. Anfang 2025 ist ein weiteres Forum geplant, das vertieft auf CCU, Wasserelektrolyse und Oxy-Fuel-Technologien eingeht. Im Fokus: Wie kann die Schweiz mit nachhaltigen Lösungen international eine Vorreiterrolle spielen? Konkrete Lösungsansätze und Fallstudien sollen dabei helfen, die Öffentlichkeit und die Industrie für das Thema weiter zu sensibilisieren.
Ein ausführlicherer Bericht findet sich auf der SATW-Website unter «Publikationen».
Rita Hofmann, Christian Holzner, Hans-Peter Meyer, Nicole Wettstein, Schweizerische Akademie der Technischen Wissenschaften (SATW)