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Auch mikrobielle Systeme haben Kipppunkte

Wie wird die Vielfalt in mikrobiellen Gemeinschaften aufrechterhalten? Das zu verstehen, ist eine grosse Herausforderung. Denn Netzwerke, die sich gegenseitig ernähren, schaffen komplexe Abhängigkeiten zwischen Verbraucherpopulationen, welche nur schwer zu entwirren sind. (Symbolbild: Shutterstock)

Das Überleben von Mikroben hängt nicht nur von ihren Bedürfnissen ab, sondern vielmehr von einem Beziehungsgeflecht, das schon durch kleine Störungen Kollabieren kann. Eine neue Studie legt dar, wie die mikrobielle Vielfalt durch ein Geflecht gegenseitiger Abhängigkeiten geprägt ist.

Mikrobielle Ökosysteme – etwa im Meerwasser, im Boden oder im menschlichen Darm – sind erstaunlich vielfältig, doch bislang gelingt es Forschenden nur selten, diese Vielfalt im Labor nachzubilden: Viele Mikroorganismen sterben ab, wenn man sie zu kultivieren versucht. Eine neue Studie von zwei Forschern des Helmholtz-Instituts für funktionelle marine Biodiversität an der Universität Oldenburg (HIFMB) bietet nun eine mögliche Erklärung: Die Biodiversitätswissenschaftler Dr. Tom Clegg und Prof. Dr. Thilo Gross kommen zu dem Schluss, dass das Überleben der Mikroben nicht allein von ihren individuellen Bedürfnissen abhängt, sondern vielmehr von einem verborgenen Beziehungsgeflecht, das schon durch kleine strukturelle Änderungen zum Kollabieren gebracht werden kann.

Kipppunkte – komplexes Geflecht bricht zusammen

In ihrer Arbeit betrachten die Forscher Mikrobengemeinschaften vereinfacht als Netzwerk, in dem unterschiedliche Populationen durch den Austausch von Stoffwechselprodukten miteinander verbunden sind: Jede Art benötigt Nährstoffe und gibt gleichzeitig Stoffe ab, die von anderen als Nahrung benötigt werden. Dieses komplexe Geflecht modellierten Clegg und Gross mit Methoden der Netzwerktheorie – einem mathematischen Verfahren, das ursprünglich aus der Physik stammt und dort eingesetzt wird, um das Verhalten komplexer Systeme zu verstehen.

Das Ergebnis der Analyse: Im Modell kann der Verlust einzelner Populationen das gesamte Netzwerk zusammenbrechen lassen, wobei die Mikrobengemeinschaft relativ abrupt in einen Zustand geringerer Vielfalt übergeht. «Ein solcher Kollaps lässt sich als Kipppunkt verstehen, ähnlich wie ein Blackout in einem Stromnetz oder der Zusammenbruch der Lieferketten während der Coronapandemie», erläutert Hauptautor Clegg.

Der Versuch, eine Mikrobengemeinschaft im Labor zu kultivieren, stelle eine solche Störung dar: Wenn etwa bei einer Probennahme nicht alle Mitglieder einer natürlichen Lebensgemeinschaft erfasst werden, fallen sie als Hersteller von Stoffwechselprodukten aus, die wiederum für andere Arten lebensnotwendig sind. «Unsere Studie konzentriert sich auf die Struktur dieser Wechselwirkungen und liefert neue Einblicke darüber, warum es so schwierig ist, die Vielfalt mikrobieller Gemeinschaften im Labor zu erhalten», erklärt Thilo Gross.

«Die Gemeinschaft gedeiht oder kollabiert als Ganzes»

Zwar hätten Forschende schon lange vermutet, dass gegenseitige Abhängigkeiten eine entscheidende Rolle dabei spielen, ob sich Mikroben im Labor kultivieren lassen oder nicht. Die aktuelle Studie zeige jedoch zum ersten Mal, wie sich diese Verflechtungen in komplexen Gemeinschaften als Ganzes auswirken – und dass Gemeinschaften selbst in einer Umgebung wie einer Laborkultur, in der es genug Ressourcen gibt, zusammenbrechen können, wenn das Netz ihrer gegenseitigen Beziehungen gestört wird.

Das Modell zeige zudem, dass sich solche Systeme unter Umständen selbst dann nicht erholen, wenn alle nötigen Ressourcen wieder verfügbar sind. «Es geht nicht nur darum, was individuelle Mikroben brauchen, sondern von wem sie abhängen», betont Clegg. «Die Gemeinschaft gedeiht oder kollabiert als Ganzes.» Die Ergebnisse sind in der Fachzeitschrift PNAS erschienen.

https://uol.de

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