Die Dosis macht das Gift – Eine Forschungsgruppe an der Universität Freiburg hat die Mechanismen entschlüsselt, durch die unsere Zellen auf natürliche Weise Blausäure (Wasserstoffcyanid) produzieren. Dieses Gas, das in hohen Dosen giftig ist, spielt eine zentrale Rolle für die normale Funktion unseres Körpers. Die therapeutischen Implikationen dieser Entdeckung sind erheblich.
Obwohl Blausäure als Gift gilt, wird sie nicht nur endogen und auf natürliche Weise von Säugetierzellen produziert, sondern übernimmt auch eine fundamentale Funktion in ihrem Stoffwechsel. Eine so weitreichende Aussage wäre ohne die Arbeit von Prof. Csaba Szabo und seinem Team nicht möglich gewesen. In einer in der Fachzeitschrift Nature Metabolism veröffentlichten Studie beschreiben die Forschenden erstmals die Mechanismen der körpereigenen Blausäureproduktion und die gesundheitlichen Folgen, wenn diese entweder überhandnimmt oder nicht in ausreichender Menge vorhanden ist.
Eine Prise Zyanid
Durch Experimente mit menschlichen Zellen und lebenden Mäusen konnte die Forschungsgruppe nachweisen, dass Blausäure systematisch im Körper vorkommt. «Wir konnten zeigen, dass dieses Gas natürlich produziert wird – ohne äussere Einflüsse oder Kontamination», erklärt Szabo. Während dieses Phänomen bereits bei Pflanzen und Bakterien bekannt war, konnte es bei Säugetieren bisher nicht nachgewiesen werden.
Wie es sich für einen Pharmakologen gehört, wollte Szabo daraufhin herausfinden, welche Faktoren für die Produktion von Blausäure verantwortlich sind. Als die Forschenden Zellkulturen mit Glycin versetzte, beobachteten sie eine erhöhte Produktion von Blausäure. «Wir konnten nachweisen, dass Glycin, eine in unserem Körper vorkommende Aminosäure, die Produktion von Blausäure in bestimmten Zellen, wie etwa in der Leber, stimuliert», erklärt Szabo.
Richtige Balance entscheidend
Die nächste Herausforderung bestand darin, zu verstehen, wie der Körper die Blausäureproduktion reguliert, um eine toxische Anreicherung zu vermeiden. In diesem Zusammenhang richteten die Forschenden ihre Aufmerksamkeit auf Rhodanese – ein Enzym, das für die Entgiftung von Blausäure bekannt ist.
«Ähnlich wie bei Glycin haben verschiedene in vitro- und in vivo-Experimente gezeigt, dass Rhodanese als eine Art Entschärfungsmechanismus für Blausäure fungiert», erklärt Szabo. «Dieses Enzym wandelt Blausäure in eine ungiftige Form um – das sogenannte Thiocyanat –, wodurch die Zellen vor einer möglichen Vergiftung geschützt werden.»
Therapeutische Implikationen
Szabo ist überzeugt, dass das Verständnis dieser Mechanismen weitreichende medizinische Auswirkungen haben kann. Zwei Beispiele verdeutlichen das Potenzial dieser Entdeckung:
Schutz bei Sauerstoffmangel: In Laborversuchen wurde festgestellt, dass Zellen bei Sauerstoffmangel (Hypoxie) besser überleben, wenn eine geringe Menge Blausäure vorhanden ist. Für Szabo ist dies ein vielversprechender Ansatz für die Behandlung von Schlaganfällen: «Bei einem Schlaganfall leiden die Hirnzellen unter einem akuten Sauerstoffmangel. Da wir nun wissen, dass Blausäure die Zellen schützt, können wir uns gut vorstellen, dass sie dazu beitragen könnte, die Folgeschäden eines Schlaganfalls zu begrenzen.»
Behandlung von Stoffwechselerkrankungen: Die Forschenden fanden ausserdem heraus, dass bestimmte Erkrankungen, wie die nicht-ketotische Hyperglycinämie (NKH), zu einer übermässigen Produktion von Blausäure führen. In solchen Fällen vergiftet das sich anreichernde Gas die Zellen, stört deren Stoffwechsel und kann schwere neurologische Schäden verursachen. Ein besseres Verständnis der Rolle von Glycin und Rhodanese könnte hier neue therapeutische Ansätze ermöglichen.
Bahnbrechende Entdeckung
In Anlehnung an Paracelsus, den berühmten Schweizer Arzt, bestätigen die Forschenden aus Freiburg: Alles ist Gift, nichts ist Gift – es kommt nur auf die Menge an. Diese über 500 Jahre alte Erkenntnis gilt also auch für Blausäure, deren Toxizität allgemein bekannt ist. Szabo betrachtet die Studie als Meilenstein: «Ich bin überzeugt, dass die Arbeit unser Verständnis von Zellbiologie und Stoffwechsel grundlegend verändern wird.»