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Hängt die Schweiz am Rockzipfel der Pharma?

Die Pharmaindustrie und die Schweiz haben eine lange, gemeinsame Geschichte. Der stabile Standort ist für die Branche wertvoll und die Infrastruktur ist stark auf sie ausgelegt. Von der hiesigen Forschung profitieren die Forschenden selbst, der gesamte Industriesektor aber auch der Staat. Im internationalen Vergleich ist die Pharmabranche ganz vorne mit dabei. Auch innerhalb des Landes wird sie immer bedeutender. Dies hat vielerlei Konsequenzen – positive wie auch negative.
Die weissen Gipfel prägen das Bild der Schweiz. Auch die Pharmaindustrie formt das Land seit geraumer Zeit. (Bild: Adpic)

Die Pharmaindustrie und die Schweiz haben eine lange, gemeinsame Geschichte. Der stabile Standort ist für die Branche wertvoll und die Infrastruktur ist stark auf sie ausgelegt. Von der hiesigen Forschung profitieren die Forschenden selbst, der gesamte Industriesektor aber auch der Staat. Im internationalen Vergleich ist die Pharmabranche ganz vorne mit dabei. Auch innerhalb des Landes wird sie immer bedeutender. Dies hat vielerlei Konsequenzen – positive wie auch negative.

Denkt man als Aussenstehender an die Schweiz, dann kommen einem die Uhren, Schokolade oder die Berge in den Sinn. Die wenigsten denken im ersten Augenblick an die Pharmaindustrie. Doch sie spielt eine ausserordentliche wirtschaftliche Rolle in diesem Land. Dies bestätigen gerade die Exportzahlen aus dem schwierigen vergangenen Jahr 2020. Seit der Jahrtausendwende dominieren die Pharmaprodukte den Schweizer Aussenhandel. Im Krisenjahr 2020 zeigte sich diese Dominanz noch markanter als in den Jahren zuvor. Dann nämlich machten die Ausfuhrprodukte der Chemie- und Pharmabranche über die Hälfte der Exporte aus. Mit total 116,40 Milliarden Franken lag das Exportvolumen um 1,6 Prozent höher als im Vorjahr 2019.

Zum Vergleich: Die Gesamtexporte 2020 gingen in der Schweiz um –7,1 Prozent zurück. Ohne Pharmazeutika, Vitamine oder Diagnostika – man denke hier nur an die weltweit durchgeführten Coronatests – läge dieser Wert noch tiefer im Minus. Die Chemie- und Pharmaindustrie erwies sich als konjunkturresistent.

Der Blick in die Vergangenheit (ab 1990) zeigt deutlich die positive Entwicklung im Aussenhandel im Vergleich mit anderen Erzeugnissen:

Forderungen der Pharmalobby

Noch bevor das neuartige Coronavirus 2020 die Schweiz erreicht hatte, veröffentlichte der Verband der forschenden pharmazeutischen Firmen der Schweiz (Interpharma) ein Papier zur Förderung der Pharmaindustrie. Der Strategiebericht «Pharmastandort 2030 Schweiz» stellt klare Forderungen an die Behörden. So befürchtet der Verband, dass wegen der Digitalisierung branchenfremde Unternehmen in den Gesundheitsmarkt «eindringen». Wolle die Schweiz eine führende Rolle im «digitalen Wandel» einnehmen, müsse sie dringend handeln, schreibt Interpharma im Bericht. Der Verband stuft die regulatorischen Rahmenbedingungen, wenn es um die Verfügbarkeit von elektronischen Patientendaten geht, als ungenügend ein. Mit sogenannten «Real World Data» wollen die Interessenvertreter die Datenlage von klinischen Studien neuer Pharmaprodukte optimieren.

Die Pharmabranche will mit dem Strategiebericht «Pharmastandort 2030 Schweiz»
hoch hinaus. Die Roche-Türme in Basel Mitte Februar 2021. (Bild: Roger Bieri)

Daten, Daten und nochmals Daten

Doch was sind Real World Data eigentlich? Das sind zusammengefasste Informationsbündel aus Patientenregistern, Versicherungsdatenbanken oder elektronischen Patientenberichten. Die Vorteile dieser zusätzlichen Datenquellen liegen auf der Hand. Sie haben eine präventive Wirkung. Dank der umfassenderen Datenlage werden ungünstige Therapien oder Nebenwirkungen schneller sichtbar. Bessere Therapiemöglichkeiten sind die Folge.

Die Risiken und Nebenwirkungen

Aber auch die Risiken sind nicht zu unterschätzen. Besonders erwähnenswert ist die anspruchsvolle Sicherung des Daten und Persönlichkeitsschutzes. Deshalb verlangt hier Interpharma einen vergleichbaren Schutz wie er bereits bei den heutigen klinischen Daten praktiziert wird. Laut einer Arbeitsgruppe für Personalisierte Medizin des Bundesamts für Gesundheit (BAG) sei aber ein absoluter Schutz solcher Daten aus technischer Sicht nie möglich – wohl aber verschiedene Sicherheitsgrade. Auch könnte durch die Entwicklung der Digitalisierung im Gesundheitsmarkt ein erhöhtes Risiko für Diskriminierung entstehen. Zudem führt der unkritische Umgang mit solchen Datenmengen schnell zu falschen Schlüssen.

Druck auf Swissmedic: Es soll schneller gehen

Eine weitere Forderung im Bericht der Interessenvertreter: Es soll schneller zu einer Zulassung für neuartige Produkte kommen. Die Schweizer Arzneimittelbehörde sei im Vergleich zu ihren Partnerbehörden der Europäischen Arzneimittelagentur (EMA) oder der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) viel zu langsam. So soll Swissmedic das beschleunigte Verfahren («Fast Track»-Verfahren), wie sie beispielsweise die FDA kennt, ebenfalls anwenden. Die Mitglieder von Interpharma ihrerseits reichen dann Studienresultate neuer Arzneimittel früher bei Swissmedic ein als bisher. Bis heute werden die EMA und FDA nämlich bei der Ersteinreichung bevorzugt.

Swissmedic selbst sieht jedenfalls beim Standardverfahren Verbesserungspotenzial. Sie hat sich mit den Zulassungsbehörden der EU und der USA verglichen. So brauchte die Behörde für das Jahr 2019 wesentlich mehr Zeit, bis es zu einer Zulassung kam. Bei den Neuanmeldungen neuer aktiver Substanzen betrug der Medianwert für die Gesamtdurchlaufzeit 555 Kalendertage. Zum Vergleich: Die europäische Behörde EMA benötigte 401 und die FDA 318 Kalendertage. In der Sprache liegt das Problem Zur erhöhten Gesamtdurchlaufzeit scheine einerseits die verlängerte Antwortzeit der Firmen in bestimmten Bereichen beizutragen und andererseits komme es oft zu zusätzlichen Textprüfungsrunden, informiert Swissmedic auf seiner Website. Gerade bei den immer wiederkehrenden Korrekturrunden sieht das Heilmittelinstitut das eigentliche Problem. Es schätzt, dass dabei im Median 100 Kalendertage in Anspruch genommen werden. Erste Verbesserungsmassnahmen sind laut Swissmedic bereits ergriffen worden.

Wirtschaftliche Abhängigkeit

Viele Firmen sind in der Schweiz auf die Pharmaindustrie angewiesen. Als 46 800 Menschen im Jahr 2018 in einem Pharmaunternehmen arbeiteten, waren im selben Jahr 207 300 Personen aus einem branchenfremden Bereich direkt oder indirekt für die Pharmaindustrie tätig. Diese generiert also zusätzlich ein Vielfaches mehr Arbeitsplätze in einem branchenfremden Sektor. Zu diesem Ergebnis kam eine 2019 veröffentlichte Studie des Wirtschaftsforschungsinstituts BAK. Es hat das Papier im Auftrag von Interpharma verfasst. Die Autoren der Studie schreiben, dass ohne das reale Wertschöpfungswachstum der Pharmabranche von durchschnittlich 9,3 Prozent pro Jahr das Schweizer BIP-Wachstum zwischen 2008 und 2018 um ein Drittel niedriger ausgefallen wäre. Die Pharmabranche kurbelt die Wirtschaft an. Dies war allerdings nicht immer so. Auch sie kennt nur zu gut die Schattenseiten der Marktwirtschaft.

Wer hoch steigt, kann tief fallen

Eine grosse Krise durchlebte die Chemie-und Pharmabranche in den 1990er-Jahren. Es kam zu Umstrukturierungen, Dezentralisierungen und Übernahmen. Zwischen 1991 und 1995 verloren 18 Prozent der Angestellten ihre Stelle. Zu allem Übel hebelten grosse Player den freien Wettbewerb in der Schweiz auf. Die Giganten Roche, Lonza, BASF und weitere Unternehmen nahmen an einem Vitamin-Kartell teil. Das ganze Konstrukt flog schliesslich auf und wurde öffentlich. War das ein Verzweiflungsakt, um die Zahlen wieder in die Höhe zu treiben? Immerhin: Die Unternehmen haben alles zugegeben und bestimmte Manager mussten eine Gefängnisstrafe absitzen.

Eine vergleichbare Krise wie in den 1990er-Jahren hätte heute in der Schweiz weit grossflächigere Folgen. Die wirtschaftliche Kraft der Pharmaindustrie nimmt wegen der Coronapandemie an Fahrt auf. Wo andere Branchen momentan kränkeln, gewinnt sie an Boden. Diese Energie stabilisiert die Ökonomie im Land. Sie macht sie aber auch deutlich von ihr abhängig.

Roger Bieri

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