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Im Tiefflug über gefärbte Zellverbände gleiten

Wohl kein medizinisches Fach spürt den Wandel der Zeit so stark wie die Pathologie. An der Universität Bern wurde ein futuristisch anmutendes Gerät erfunden, das den Mikroskopen in der Diagnostik Konkurrenz macht.
Wie im Gaming-Sessel: Heather Dawson führt eine Gewebeprobeuntersuchung mit dem Pathojet durch. (Bild: Dres Hubacher)

Wohl kein medizinisches Fach spürt den Wandel der Zeit so stark wie die Pathologie. An der Universität Bern wurde ein futuristisch anmutendes Gerät erfunden, das den Mikroskopen in der Diagnostik Konkurrenz macht.

Die Pathologie ist – wörtlich aus dem Altgriechischen übersetzt – die Lehre der Krankheiten. Früher führten die Fachpersonen oft Leichenschauen durch, um ihre Kenntnisse von den Krankheitsprozessen zu vertiefen. «Leider wird unser Fach auch heute noch mit Autopsien assoziiert», sagt Alessandro Lugli, Chefarzt für Gastrointestinale Gewebemedizin. «Doch diese Tätigkeit tritt aufgrund des höheren Wissensstands der Medizin und neuer Technologien immer mehr in den Hintergrund.» Heather Dawson, Leitende Ärztin der Gewebemedizin, fügt hinzu: «Ich habe seit zehn Jahren keine einzige Autopsie mehr durchgeführt.»

Lugli und Dawson arbeiten beide am Institut für Gewebemedizin und Pathologie der Universität Bern, um den umfassenden Wandel zu unterstreichen, der das Fachgebiet der Pathologie zusehends transformiert. Im Unterschied zu ihren Kollegen, die kranke Menschen behandeln, stehen die Fachpersonen für Gewebemedizin nicht im direkten Kontakt mit Patientinnen. Sie erstellen – sozusagen hinter den Kulissen – anhand von Gewebeproben eine fundierte Diagnose.

Hauchfeine Scheibchen

Dawson schliesst mit ihrem Badge die Tür zu einem hellen und weitläufigen Raum auf, in dem gleichzeitig eine konzentrierte Ruhe wie auch ein emsiges Treiben herrschen. Ein gutes Dutzend Personen ist damit beschäftigt, den rund 700 verschiedenen Gewebeproben, die jeden Tag hier anfallen, mit chemischen Verfahren das in ihnen enthaltene Wasser zu entziehen, sie dann in Paraffinblöcke einzukapseln – und diese schliesslich in hauchfeine Scheibchen zu schneiden, die gut 30-mal dünner sind als ein menschliches Haar.

«Im Paraffin, einer Art Kerzenwachs, bleiben nicht nur die Strukturen, sondern auch die biologischen Moleküle, wie die DNA und die Proteine, jahrzehntelang erhalten», führt Dawson aus. Vom Schneideblock aus werden die Gewebescheibchen vorsichtig in ein Wasserbad gelegt, wo sie obenauf schwimmen – und auf einen Objektträger aus Glas gelangen, wenn er im richtigen Winkel aus dem Wasser gezogen wird. «Dann kommen die Gewebeschnitte in den Färbebereich», sagt Dawson und zeigt auf den Maschinenpark, wo die gläsernen Objektträger von kleinen Roboterarmen nach exakt definierten Zeitabständen von einem Bad ins nächste überführt werden. «Wir haben die Abläufe optimiert und uns auch genau überlegt, wo wir die Maschinen hinstellen, damit sich die Proben immer nur in eine Richtung bewegen», erklärt Dawson. «Heute durchläuft eine Probe während ihrer Bearbeitung noch einen 50 Meter langen Weg, vor der Optimierung war der Weg wegen des Hin und Her zehnmal länger.»

Von der Gewebeprobe zur Diagnose

1. Annahme der Gewebeproben am Institut für Gewebemedizin und Pathologie. (Bild: Dres Hubacher)
2. Mechanische Verarbeitung im Labor, bei der der Probe ein ultradünner Schnitt entnommen wird. (Bild: Dres Hubacher)
3. Dieser Schnitt wird jetzt zwischen Gläsern fixiert. (Bild: Dres Hubacher)
4. Dann wir der Schnitt gescannt – worauf digital weitergearbeitet wird. (Bild: Dres Hubacher)
5. Das digitale Bild wird mit dem «Pathojet» untersucht und diskutiert. (Bild: Dres Hubacher)

Mikroskopierräume im Diagnosetrakt

Am Schluss kommen die gefärbten Schnitte auf die Verteilstation, wo sie den verschiedenen Ärztinnen und Ärzten zugewiesen werden, die mit ihrer Expertise unterschiedliche Bereiche der Gewebemedizin abdecken. Und die sich in sechs verschiedenen Mikroskopierräumen im anliegenden Diagnosetrakt anschauen, ob eine Gewebeprobe zum Beispiel Krebszellen enthält (und falls ja, ob der Krebs auch schon Lymphgefässe besiedelt und also damit begonnen hat, Ableger in andere Körperregionen zu streuen).

Auf der Verteilstation steht ein rund zwei Meter hoher, unscheinbarer Kasten mit einer durchsichtigen Glaswand. «Das ist der Scanner: die Schnittstelle zur Digitalisierung – und zur künstlichen Intelligenz», sagt Lugli. Aktuell wird nur ein Teil der Gewebeschnitte eingescannt, weil die Kapazität der Maschine begrenzt ist. Doch das dürfte sich aufgrund der rasanten Fortschritte in der Technik schon in wenigen Jahren ändern, sieht Lugli voraus.

Verlust eines Statussymbols

Spätestens dann braucht es keine Mikroskope mehr. «Damit verlieren wir in der Pathologie unser Statussymbol», sagt Lugli mit einem verschmitzten Lächeln. Um seine Kolleginnen über diesen Verlust hinwegzutrösten – und um sie gleichzeitig bestmöglich für die Zukunft zu rüsten, hat er den «Pathojet» erfunden. Als Filmfan hat er sich dabei von ‹Top Gun› inspirieren lassen. Ähnlich wie Tom Cruise durch die Lüfte donnert, sollen auch Luglis Kollegen in die Lage versetzt werden, dank einer Art medizinischem Cockpit im Tiefflug über die gefärbten Zellverbände zu gleiten – und krankes Gewebe auszumachen. Dabei sollte der neue digitale Arbeitsplatz ergonomisch sein, damit die Fachpersonen ihre Konzentration möglichst auch über Stunden aufrechterhalten können.

«Die Idee hatte ich schon 2014, doch sie ist mehrere Jahre nicht vom Fleck gekommen, weil niemand von den Industriepartnern, die ich für die Umsetzung angegangen bin, an die Idee geglaubt hat», erzählt Lugli. Ins Rollen kam dann die Geschichte, als Miryam Blassnigg als Direktionsassistentin zum Institut für Gewebemedizin und Pathologie gestossen ist. Sie hatte davor schon verschiedene Funktionen in der Privatwirtschaft ausgeübt – und nahm sich sofort dieser Herausforderung an. Weil Gewebemediziner einen grossen Teil ihrer Arbeit und viele Stunden damit verbringen, Bilder von Gewebeschnitten auf verdächtige Auffälligkeiten hin zu untersuchen, hat sich Blassnigg in anderen Branchen nach Stühlen umgeschaut, auf denen Menschen ebenso stundenlang – und möglichst beschwerdefrei – sitzen. «So bin ich auf Gaming-Stühle gekommen», sagt Blassnigg.

Gepolsterter Liegesessel statt verspannten Nacken

Vom Aussehen und von den Funktionalitäten her gefiel ihr ein Produkt aus Kanada besonders gut, dessen Hersteller unter anderem auch Flugsimulatoren und Arbeitsplätze für die Fernbedienung von selbstfahrenden Minenfahrzeugen verkauft. Nachdem Blassnigg und Lugli den Hersteller kontaktiert hatten, ging es plötzlich rasch. «Sie waren sehr motiviert und haben mit uns einen Prototypen entwickelt», blickt Blassnigg zurück.

Heute stehen drei dieser futuristisch anmutenden Arbeitsplätze im Testdiagnostikraum des Instituts. «Ich fühle mich im Pathojet wie in einer Blase und kann mich sehr gut auf die Bilder fokussieren», sagt Lugli. «Ausserdem habe ich wegen der Digitalisierung auch mehr Möglichkeiten und kann bei der Bildanalyse zum Beispiel auch künstliche Intelligenz einsetzen.» Auch Dawson kann dem Arbeitsplatz der Zukunft viel Gutes abgewinnen: Anstatt mit gekrümmtem Rücken und zusehends verspannten Schultern- und Nackenpartien ins Okular eines Mikroskops zu starren, kann sich die Gewebemedizinerin in einen ergonomisch gepolsterten Liegesessel fläzen.

Das abgerundete Stahlgerüst des Pathojets sticht wie ein Skorpionschwanz hoch über dem Sessel nach vorne – und präsentiert den Pilotinnen auf einem gekrümmten breiten Bildschirm alle Informationen, die sie zur visuellen Beurteilung der digitalisierten Gewebeschnitte brauchen. «Im Pathojet lassen sich unterschiedlich gefärbte Schnitte nebeneinanderstellen und miteinander vergleichen», sagt Dawson. «Und wir können unsere Schlussfolgerungen gleich mit den Kollegen besprechen, die auf unsere Resultate warten, um mit der Behandlung fortfahren zu können.»

Weltweit erstes Gerät seiner Art

Nun schaltet sich per Videocall Reiner Wiest hinzu. Der Chefarzt der Gastroenterologie am Inselspital möchte mit Dawson den Befund des Patienten besprechen, bei dem er vorhin bei der Darmspiegelung den Polypen entfernt hat. Auf den gefärbten Schnitten des Darmpolypen erkennt Dawson rasch, dass es sich um einen Darmkrebs im Frühstadium ohne Risikofaktoren handelt. «Der Patient ist durch die vollständige Abtragung des Polypen geheilt», sagt Dawson.

Der als Markenzeichen der Universität Bern eingetragene Pathojet das weltweit erste Gerät seiner Art in diesem Fach. Im letzten Herbst haben Lugli und Blassnigg diesen am europäischen Pathologiekongress in Basel erstmals öffentlich präsentiert. «Das war ein riesiger Erfolg. Das Gerät überzeugte nicht nur wegen der Ergonomie und des Designs, sondern auch wegen der Kosteneffektivität», sagt Blassnigg.

Ori Schipper

Quelle: uniFOKUS, Ausgabe Juni 2023

www.unibe.ch

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